Das soziale Tier
Eigenschaften, die diejenigen, die Fortschritte machten, von denjenigen unterschieden, die keine machten. Der IQ sagte das nicht zuverlässig vorher; ebenso wenig die Sensibilität des Gehörs, die mathematischen Fähigkeiten, das Rhythmusgefühl oder das Einkommen. Die höchste prognostische Relevanz hatte eine Frage, die McPherson den Schülern gestellt hatte, noch bevor sie überhaupt ihre Instrumente ausgewählt hatten. Wie lange, glaubst du, wirst du spielen? Die Schüler, die vorhatten, nur kurze Zeit zu spielen, entwickelten keine besondere Fertigkeit. Die Kinder, die für ein paar Jahre spielen wollten, hatten nur bescheidene Erfolge. Einige Kinder aber sagten tatsächlich: »Ich will Musiker werden. Ich werde mein ganzes Leben spielen.« Diese Kinder waren sehr erfolgreich. Das Identitätsgefühl, das die Kinder in die erste Unterrichtsstunde mitbrachten, war der Funke, der alle späteren Fortschritte auslöste. 2 Sie hatten eine Vision davon, wer sie in Zukunft sein wollten.
Arbeit
Manche Menschen leben in einem romantischen Zeitalter. Sie halten Genialität für das Produkt einer göttlichen Inspiration. Sie glauben, dass es durch die Jahrhunderte hindurch einige mustergültige Geistesgrößen gegeben habe – Dante, Mozart und Einstein –, deren Begabungen das gewöhnliche Maß weit übertrafen, die einen geradezu jenseitigen Zugang zu transzendenten Wahrheiten hatten und denen man am besten mit ehrfurchtsvoller Scheu begegne.
Wir alle leben in Wirklichkeit aber in einem Zeitalter der Wissenschaft. Die Fähigkeit, schon in jungen Jahren herausragende Leistungen zu vollbringen, hat man wissenschaftlich gründlich erforscht und die Ergebnisse dieser Studien in Bänden wie dem Cambridge Handbook of Expertise and Expert Performance zusammengetragen. Nach vorherrschender Meinung werden Genies zum größten Teil gemacht, nicht geboren. Nach dieser allzu prosaischen Sichtweise waren selbst Mozarts frühe Fähigkeiten nicht das Produkt einer schier übernatürlichen Begabung. Seine frühen Kompositionen seien nicht die Produkte eines Genies gewesen, behaupten Forscher. Mozart sei zwar schon in frühester Kindheit ein sehr guter Musiker gewesen, aber er wäre unter den hochbegabten Kindern unserer Zeit nicht hervorgestochen, heißt es.
Man behauptet, Mozart habe die gleichen Fähigkeiten besessen wie viele andere außergewöhnliche Frühbegabte auch: großes Talent, die Fähigkeit, sich für längere Zeit intensiv konzentrieren zu können, und einen starken inneren Antrieb, das eigene Können zu verbessern, wie man ihn normalerweise nur bei Erwachsenen findet. Mozart spielte bereits in jungen Jahren sehr viel Klavier, sodass er schon frühzeitig seine zehntausend Übungsstunden absolviert hatte und sich, darauf aufbauend, weiterentwickeln konnte.
Die jüngsten Forschungen legen eine nüchterne, demokratische, ja regelrecht puritanische Erklärung herausragender Leistungen nahe. Der Schlüsselfaktor, der Genies von denjenigen unterscheidet, die lediglich sehr, sehr gut sind, ist nicht der göttliche Funke. Worauf es wirklich ankommt, ist die Fähigkeit, im Lauf der Zeit immer besser zu werden. Wie K. Anders Ericsson von der Florida State University nachgewiesen hat, ist beharrliches Üben der entscheidende Faktor. Künstler von Weltklasse verbringen mehr Stunden (sehr viel mehr Stunden) damit, ihre Fertigkeiten auszufeilen. Ericsson hat herausgefunden, dass Spitzenleister fünfmal so viel Zeit darauf verwenden, exzellent zu werden, wie durchschnittlich Begabte. 3
John Haynes von der Carnegie Mellon University untersuchte 500 Meisterwerke der klassischen Musik. 4 Nur drei davon wurden innerhalb der ersten zehn Jahre der Karriere eines Komponisten veröffentlicht. Bei allen anderen bedurfte es eines Jahrzehnts intensiver, stetiger Arbeit, ehe sie etwas wirklich Großartiges zustande brachten. Die gleiche allgemeine Regel gilt für Einstein, Picasso, T. S. Eliot, Freud und Martha Graham.
Es ist allerdings nicht die Übungszeit allein, auf die es ankommt, sondern die Art und Weise, wie man in diesen Stunden arbeitet. Mittelmäßige Künstler üben auf so angenehme Weise wie möglich. Die wirklich Großen dagegen üben sehr bewusst und selbstkritisch. Oftmals zerlegen sie ihre Kunst in ihre kleinsten Bestandteile und arbeiten diese kleine Stückchen dann immer wieder durch. In der Meadowmount School of Music nehmen sich die Kursteilnehmer für eine Partiturseite drei Stunden. Sie spielen die Musik fünfmal
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