Das soziale Tier
bereitwillig zu Gruppen zusammenschließen.
Erica nahm sich vor, niemals irgendwo zu arbeiten, wo sich Menschen nicht vertrauten. Wenn sie erst einmal einen Job hatte, wollte sie dort als »sozialer Klebstoff« fungieren. Sie würde Ausflüge organisieren, Kontakte herstellen, Vertrauen aufbauen. Sie würde Informationen von Person zu Person weiterleiten. Sie würde Mitarbeiter miteinander in Verbindung bringen. Wenn die Personen, mit denen sie an ihrem Arbeitsplatz zu tun hätte, ein Netzwerkdiagramm ihrer sozialen Beziehungen erstellen würden, wäre sie auf jedem drauf.
Die letzte Maxime, die sich Erica an diesem Tag notierte, lautete: »Sei ein Ideenraum-Integrator.« Erica war aufgefallen, dass die größten Künstler oftmals zwei mentale Räume miteinander kombinierten, wie Richard Ogle in seinem Buch Smart World schreibt. Picasso erbte die Traditionen der westlichen Kunst, aber er beschäftigte sich auch mit den Masken der afrikanischen Kunst. Aus der Verschmelzung dieser beiden Ideenräume ging das Werk Les Demoiselles d’Avignon hervor, und sie brachte Picassos fantastische künstlerische Schaffenskraft zum Ausbruch. 56
Erica beschloss, immer zu versuchen, sich an der Schnittstelle von zwei mentalen Räumen zu bewegen. In Organisationen wollte sie an der Schnittstelle von zwei Abteilungen stehen beziehungsweise die Kluft zwischen den Abteilungen überbrücken. Ronald Burt von der University of Chicago hat den Begriff der »strukturellen Löcher« geprägt. 57 In jeder Gesellschaft gibt es Gruppen von Menschen, die bestimmte Aufgaben ausführen. Aber zwischen diesen Gruppen gibt es »Löcher«, also Regionen, wo es keine Menschen und keine Struktur gibt. Das sind die Orte, wo der Ideenfluss stockt, die Stellen, die einen Bereich eines Unternehmens von einem anderen trennen. Erica wollte diese Löcher füllen. Sie wollte den Abstand zwischen den Menschen verringern – Brücken zwischen zerstrittenen Gruppen bauen und deren Ideen zusammenführen. Sie würde ihr Schicksal und ihre Rolle in einer Welt einander widerstreitender Netzwerke und Kulturen finden.
Kapitel 10 Intelligenz
Erica musste sich nicht bemühen, einen Arbeitgeber zu finden. Die Arbeitgeber fanden sie. Seit ihrem letzten Jahr auf dem College bis zu ihrem Diplom in BWL wurde sie intensiv von Personalvermittlern umworben. Sie aber wimmelte alle ab; wie eine reiche Erbin in einem viktorianischen Roman, die sich für den richtigen Freier aufbewahren will.
Sie liebäugelte mit der Finanzbranche und bandelte eine Zeitlang mit einer Technologiefirma an, beschloss zu guter Letzt aber, ihre Karriere bei einer angesehenen Unternehmensberatung zu beginnen. Die Firma ließ ihr die Wahl, sie konnte bei einer der »funktionalen Kompetenzgruppen« oder einer Gruppe aus dem Bereich des Industriekundensektors einsteigen. Für sie war das keine echte Wahlmöglichkeit, weil sie nicht richtig wusste, womit sich beide eigentlich beschäftigten.
Sie entschied sich dann für eine funktionale Kompetenzgruppe, weil sich das irgendwie cooler anhörte. Ihr unmittelbarer Vorgesetzter war ein Mann namens Harrison. Dreimal pro Woche versammelte Harrison sein Team, um den Fortgang der Research-Projekte zu besprechen, an denen sie arbeiteten. Diese Sitzungen fanden nicht um einem Tisch herum mit einem einzelnen Mikrofon in der Mitte statt, wie das üblicherweise der Fall war. Harrison, der recht unkonventionelle Ideen hatte, hatte einen Innenarchitekten beauftragt, ein etwas anderes Sitzungszimmer zu entwerfen. So saßen die Mitglieder seines Teams stattdessen auf niedrigen gepolsterten Sesseln in einem weitläufigen, offenen Raum, der einem großen Wohnzimmer glich.
Diese Gestaltung des Raumes sollte für Flexibilität sorgen und die Bildung kleinerer Arbeitsgruppen fördern. Stattdessen aber bewirkte sie, dass sich große Gruppen von Männern geflissentlich gegenseitig ignorieren konnten. Sie fanden sich um zehn Uhr morgens ein, stellten erst einmal ihre Kaffeebecher ab, legten ihre Papiere auf den Boden und ließen sich dann in ihre Sessel fallen. Die Sessel waren eigentlich in einer Art Kreis angeordnet, doch die einzelnen Mitglieder des Teams pflegten sie ganz vorsichtig zu verrücken, sodass sie leicht schräg zueinander standen. Das Ergebnis war, dass ein Typ aufs Fenster schaute, ein anderer auf das Kunstwerk an der Wand, während ein Dritter mit dem Gesicht zur Tür saß. So konnten sie eine ganze Stunde miteinander verbringen, ohne auch nur ein einziges Mal
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