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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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für Gefühle interessieren. Sie werden im Schnitt eher von regelbasierten Analysen unbelebter Objekte und deren Strukturmustern angezogen. Frauen sind im Schnitt einfühlsamer. Bei Experimenten, in denen Versuchspersonen nur partielle Hinweise erhalten, auf deren Grundlage sie den emotionalen Zustand einer Person einschätzen sollen, schneiden Frauen besser ab. 3 Auch in Bezug auf Sprachgedächtnis und rhetorische Gewandtheit sind sie Männern überlegen. 4 Sie reden nicht unbedingt mehr als Männer, aber sie wechseln sich beim Reden öfter ab, und sie sprechen häufiger über andere, während Männer viel öfter über sich reden. 5 Frauen suchen weitaus häufiger fremde Hilfe, wenn sie sich in Stresssituation befinden.
    Aber Erica hatte auch schon mit anderen Gruppen junger Männer zu tun gehabt, und dort ging es nicht immer zu wie hier. Diese Kultur hier war besonders, vor allem, weil sie von oben aufoktroyiert wurde. Harrison hatte soziale Unbeholfenheit in eine Form von Macht verwandelt. Je kryptischer er wurde, desto mehr Aufmerksamkeit mussten ihm alle schenken.
    Er aß jeden Tag das gleiche Mittagessen: Sandwiches mit Frischkäse und Oliven. Als Junge hatte er eine Formel entwickelt, die ihm half, die Gewinner von Hunderennen vorherzusagen; jetzt war es sein Job, nach verborgenen Mustern zu suchen. »Hast du die Fußnoten im Geschäftsbericht gelesen?«, fragte er Erica geheimnisvoll, nachdem die Gruppe einen neuen Kunden geworben hatte. »Es geht dort um das Erlebnis eines Übergangsmoments.« Daraufhin brütete sie über den Fußnoten und hatte dennoch nicht die geringste Ahnung, wovon er sprach.
    Er konnte stundenlang Diagramme studieren – Aktienkurse, die jährlichen Erträge von Kakaobohnen, Wetterkurven und Baumwollproduktionen.
    Harrison konnte äußerst eindrucksvoll auftreten. Kunden schätzten ihn, auch wenn sie ihn nicht sonderlich mochten, und Vorstandschefs wurden in seiner Gegenwart fast kleinlaut. Alle glaubten, Harrison brauche nur auf ein Blatt mit Zahlen zu schauen, und schon könne er ihnen sagen, ob sie in fünf Jahren pleite sein oder glänzend dastehen würden. Harrison teilte diese ehrfürchtige Einstellung gegenüber seiner Intelligenz. In den meisten Angelegenheiten – eigentlich in allen – war er sich seiner Sache sehr sicher, vollkommen überzeugt aber war er von zwei Dingen: Er war ein ausgesprochen kluger Kopf, und die meisten anderen Menschen auf der Welt waren es nicht.
    Ein paar Jahre lang machte es Erica Spaß, mit diesem Mann zusammenzuarbeiten, auch wenn er ziemlich seltsam war. Sie hörte ihm gern zu, wenn er über moderne Philosophie sprach. Er war ein begeisterter Bridge-Spieler. Er mochte jedes intellektuell anspruchsvolle Spiel mit festen Regeln. Manchmal half sie ihm, seine verwirrend komplexen Einsichten in die Alltagssprache zu übersetzen. Doch nach und nach fiel ihr etwas auf: Die Abteilung brachte nicht die gewünschte Leistung. Die Berichte waren hervorragend, aber die Geschäftszahlen miserabel. Es kamen zwar immer wieder neue Kunden, doch sie blieben meistens nicht lange. Man nutzte ihre Dienstleistungen für spezifische Projekte, aber kein Unternehmen holte sie als geschätztes Beratungsteam, dem man vertraute, an Bord.
    Er dauerte erstaunlich lang, bis Erica dies erkannte, aber von da an sah sie ihre Gruppe mit anderen, kritischeren Augen. Die Sitzungen zogen sich ewig hin, doch richtige Debatten gab es kaum. Stattdessen steuerte jeder kleine Informationshappen bei, die Theorien bestätigten, die Harrison Jahre zuvor aufgestellt hatte. Erica kam es vor, als würde sie Höflingen dabei zusehen, wie sie dem König Süßigkeiten brachten und anschließend beobachteten, wie er sie in ihrer aller Gegenwart verzehrte.
    Harrisons Lieblingsspruch lautete: »Mehr brauchen Sie nicht zu wissen!« Er machte eine scharfsinnige, prägnante Bemerkung über eine schwierige Situation, und dann blaffte er: »Mehr brauchen Sie nicht zu wissen!« Manchmal hätte Erica durchaus gern mehr gewusst, aber das Gespräch war unmissverständlich beendet.
    Dann gab es da das Modell. Vor vielen Jahren hatte Harrison eine Konsumentenbank sehr erfolgreich saniert. Er war eine Legende in Bankenkreisen. Jedes Mal, wenn sich jetzt eine Bank an ihn wandte, versuchte er dieses Modell umzusetzen. Er probierte es bei großen Banken und bei kleinen Banken, bei städtischen Banken und bei ländlichen Banken. Als er das Modell auch in anderen Ländern anwenden wollte, versuchte Erica ihre

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