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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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sondern als ein Tor zur weiteren Gesellschaft, sie verinnerlichen Schuldgefühle und halten sich für verantwortlich für das, was passiert, sie externalisieren Schuld nicht und machen nicht andere verantwortlich.
    Erica gelangte zu der Überzeugung, dass diese kulturelle Substruktur Entscheidungen und Verhalten stärker prägte, als es die meisten Ökonomen und die meisten Unternehmer wahrhaben wollten. Hier musste man ansetzen.
    Memo an sich selbst
    Zu einem späteren Zeitpunkt ihrer College-Laufbahn klappte Erica ihren Laptop auf und verfasste ein Memo für sich selbst. Sie versuchte einige Merksätze beziehungsweise Regeln zu formulieren, die auf den Punkt bringen sollten, was sie durch ihre Beschäftigung mit kulturellen Unterschieden gelernt hatte. Die erste Maxime, die sie für sich selbst notierte, lautete: »Denke in Netzwerken.«
    Die Gesellschaft wird nicht, anders als die Marxisten glauben, durch Klassen definiert. Sie wird auch nicht durch ethnische Identitäten definiert. Und sie ist auch keine Ansammlung unbeugsamer Individualisten, wie einige ökonomisch und sozial ausgerichtete Ultraliberale glauben. Vielmehr, so Ericas Fazit, besteht die Gesellschaft aus sich überlagernden Netzwerken.
    Wenn sie sich langweilte, setzte sie sich hin und skizzierte Netzwerkdiagramme für sich selbst und ihre Freunde. Manchmal schrieb sie den Namen eines Freundes in die Mitte eines Blatts und zog dann Striche zu allen wichtigen Bezugspersonen im Leben dieses Menschen, worauf sie weitere Striche einzeichnete, die zeigten, wie stark diese Personen untereinander verbunden waren. War sie am Vorabend mit Freunden ausgegangen, skizzierte sie möglicherweise ein Diagramm, das die sozialen Bindungen aller Menschen in dieser Clique veranschaulichte.
    Erica war überzeugt davon, dass sie Menschen besser verstand, wenn sie sie in ihrem sozialen Netzwerk betrachtete. Sie wollte sich selbst beibringen, Menschen als vernetzte Geschöpfe zu sehen, deren Entscheidungen von einem spezifischen mentalen Umfeld geprägt werden.
    »Verbinde Menschen«, schrieb Erica als Nächstes. Sie betrachtete ihre Schaubilder der Netzwerke und fragte sich: »Woraus bestehen diese Linien, die Menschen miteinander verbinden?« In einigen wenigen Sonderfällen bestehen sie aus Liebe. Aber an den meisten Arbeitsplätzen und in den meisten gesellschaftlichen Gruppierungen sind die Bindungen nicht ganz so leidenschaftlich. Die meisten Beziehungen werden von Vertrauen getragen.
    Vertrauen ist gewohnheitsmäßiges Geben und Nehmen, das mit Gefühlen verbunden ist. Es entsteht, wenn zwei Menschen etwas zusammen machen, intensiv miteinander kommunizieren und dabei langsam lernen, dass sie sich aufeinander verlassen können. Schon bald sind die Partner einer vertrauensvollen Beziehung bereit, nicht nur miteinander zu kooperieren, sondern auch Opfer füreinander zu bringen.
    Vertrauen verringert Reibungen und senkt Transaktionskosten. Mitarbeiter von Unternehmen, in denen eine vertrauensvolle Atmosphäre herrscht, sind flexibel und handeln so, dass der Zusammenhalt gefördert wird. Menschen, die in vertrauensvollen Kulturen leben, gründen mehr Gemeinschaftseinrichtungen, investieren stärker in Aktien und es fällt ihnen leichter, Großunternehmen zu gründen und zu managen. 54 Vertrauen schafft Wohlstand.
    Erica stellte fest, dass es in verschiedenen Gemeinschaften, Schulen, Studentenheimen und Universitäten verschiedene Ebenen und Arten von Vertrauen gibt. In seiner zum Klassiker gewordenen Studie The Moral Basis of a Backward Society stellte Edward Banfield fest, dass Kleinbauern in Süditalien Angehörigen ihrer Familie sehr viel Vertrauen entgegenbrachten, während sie Menschen, die nicht zu ihrer Verwandtschaft gehörten, mit tiefem Misstrauen begegneten. Dadurch fiel es ihnen schwer, größere soziale Verbände ins Leben zu rufen oder Firmen zu gründen, die größenmäßig über den Bereich der Familie hinausgingen. Deutschland und Japan zeichnen sich durch ein hohes gesellschaftliches Vertrauen aus, was es ihnen erlaubt, eng miteinander verzahnte Industrieunternehmen aufzubauen. 55 Die Vereinigten Staaten sind eine kollektive Gesellschaft, die sich für eine individualistische hält. Fragt man Amerikaner nach ihren Wertvorstellungen, erhält man die individualistischsten Antworten von allen Nationen weltweit. Doch wenn man beobachtet, wie sich Amerikaner tatsächlich verhalten, stellt man fest, dass sie einander instinktiv vertrauen und sich

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