Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
Vom Netzwerk:
Blickkontakt zueinander aufzunehmen, sogar, wenn sie sich produktiv und in gelöster Atmosphäre miteinander austauschten.
    Harrison war um die 35, bleich, groß, unsportlich und extrem brillant. »Welches Potenzgesetz gefällt Ihnen am besten?«, fragte er Erica bei einer ihrer ersten Besprechungen im Team. Erica konnte sich nichts darunter vorstellen.
    »Es ist ein Polynom mit Skaleninvarianz, wie etwa das Zipfsche Gesetz.« Das Zipfsche Gesetz, so erfuhr Erica später, besagt, dass das häufigste Wort in einer beliebigen Sprache genau doppelt so häufig vorkommt wie das zweithäufigste Wort, und so weiter bis zum seltensten Wort. Die größte Stadt in einem großen Land hat doppelt so viele Einwohner wie die zweitgrößte Stadt, und so weiter.
    »Oder Kleibers Gesetz!«, schaltete ein anderer Mitarbeiter sich ins Gespräch ein. Kleibers Gesetz besagt, dass es bei Tieren einen konstanten Zusammenhang zwischen Masse und Stoffwechsel gibt. Kleine Tiere haben demnach einen höheren Grundumsatz als große Tiere, und man kann das Verhältnis von Masse zu Stoffwechselumsatz sämtlicher Tiere auf einer Geraden auftragen, angefangen von den kleinen Bakterien bis zu den größten Flusspferden.
    Der ganze Raum war plötzlich Feuer und Flamme für Potenzgesetze. Alle außer Erica hatten ihre Favoriten. Im Vergleich zu diesen Typen kam sich Erica einigermaßen begriffsstutzig vor, aber zugleich freute sie sich darauf, mit ihnen zu arbeiten.
    Jede Sitzung hielt ein anderes intellektuelles Feuerwerk bereit. Sie ließen sich in ihre Sessel plumpsen – in denen sie im Verlauf der Besprechung immer tiefer rutschten, bis sie sich praktisch in der Horizontalen befanden, sodass ihre Bäuche aufragten, während sie ihre Beine übereinander schlugen – und ungefähr ein Mal pro Sitzung hatte jemand einen brillanten Geistesblitz. Einmal verbrachten sie eine ganze Stunde damit, zu diskutieren, ob »Jazz« das beste Wort sei, wenn man Galgenmännchen spielt.
    »Wie wäre es, wenn Shakespeares Dramen Titel wie Thriller von Robert Ludlum hätten?«, fragte einer aus dem Team eines Tages in die Runde.
    Die Rialto-Sanktion, schlug sofort jemand vor.
    Der Helsing ´ør-Wankelmut, zirpte ein anderer und meinte damit Hamlet.
    Die Dunsinane-Wiederaufforstung, rief ein Dritter und meinte damit Macbeth . 1
    Diese Männer waren zu Genies auserwählt worden, bevor sie überhaupt gehen konnten. Wahrscheinlich waren sie bei College-Quizshows und -Rededuellen allesamt die großen Asse gewesen. Harrison erwähnte einmal, dass er das Medizinstudium abgebrochen habe, weil es zu leicht gewesen sei. Wenn jemand behauptete, dieser oder jener Mitarbeiter einer anderen Firma sei schlau, fragte Harrison: »Aber ist er so schlau wie wir?« Erica spielte ein kleines Wettspiel mit sich selbst. Sie gestattete es sich, für jede Sekunde, die zwischen dem Moment verging, da Harrison den Namen einer Person erwähnte, und dem Moment, da er anmerkte, ob derjenige Harvard, Yale oder das MIT absolviert hatte, ein M&M zu essen.
    Und dann gab es die Phasen des großen Schweigens. Wenn sie keine hitzigen Debatten über methodische Fragestellungen und Datensätze führten, war die ganze Gruppe vollkommen zufrieden damit, schweigend dazusitzen – sekunden- und minutenlang. Für eine Großstädterin wie Erica war das eine Tortur. Sie setzte sich in ihrem Sessel auf, starrte ihre Füße an und sagte immer wieder mantraartig zu sich selbst: »Ich werde dieses Schweigen nicht brechen. Ich werde dieses Schweigen nicht brechen. Ich werde dieses Schweigen nicht brechen.«
    Erica fragte sich, wie es diese brillanten Köpfe fertigbrachten, so still herumzusitzen. Vielleicht hing es einfach damit zusammen, dass sie überwiegend Männer waren und dass die wenigen anderen Frauen in ihrer Gruppe über die Jahre gelernt hatten, sich an die männliche Kultur anzupassen. Natürlich war Erica mit der weitverbreiteten Vorstellung aufgewachsen, Männer seien weniger kommunikativ und empathisch als Frauen. Und eine Vielzahl wissenschaftlicher Befunde bestätigt dies. Männliche Säuglinge haben weniger Blickkontakt mit ihren Müttern als weibliche Säuglinge. Je höher der Testosteronspiegel im Mutterleib im ersten Drittel der Schwangerschaft war, umso weniger Blickkontakt nehmen sie auf. 2 Simon Baron-Cohen von der University of Cambridge wertete Forschungsarbeiten über männliche Kommunikation und Gefühle aus und gelangte zu dem Schluss, dass sich Männer stärker für Systeme und weniger

Weitere Kostenlose Bücher