Das soziale Tier
männlichen Ehre weiter verbreitet ist, schnellt dessen Cortisol- und Testosteron-Produktion wahrscheinlich jäh in die Höhe. 40 Städte im Süden haben sehr häufig Wörter wie »Gun« (Schusswaffe) in ihren Ortsnamen (Gun Point in Florida), während Städte im Norden oft Wörter wie »Joy« (Freude) in ihren Namen tragen. 41
Ein kulturelles Konstrukt wie die Sprache kann die Art und Weise verändern, wie Menschen die Welt sehen. 42 Guugu Yimithirr, eine Aborigine-Sprache in Australien, ist eine der geografischen Sprachen der Welt. Sprecher dieser Sprachen sagen nicht: »Heb die rechte Hand« oder »Mach einen Schritt zurück«. Sie sagen: »Hebe deine nördliche Hand« oder »Mach einen Schritt nach Osten«. Sprecher geografischer Sprachen besitzen ein erstaunliches Orientierungsvermögen. Sie wissen immer, selbst in Höhlen, in welcher Richtung Norden liegt. Einem Sprecher der Tzeltal-Sprache in Mexiko wurden die Augen verbunden und dann wurde er 20 Mal um die eigene Achse gedreht. Anschließend konnte er dennoch problemlos nach Norden, Süden, Osten und Westen zeigen.
Auf diese Weise prägt die Kultur bestimmte Muster in unser Gehirn ein und löst andere auf. Weil Erica in den Vereinigten Staaten aufwuchs, hatte sie ein sehr feines Gespür dafür, wann etwas kitschig oder geschmacklos war, auch wenn sie nicht genau hätte sagen können, was es dazu machte. Ihr Kopf war angefüllt mit dem, was Douglas Hofstadter »bequeme, aber praktisch undefinierbare abstrakte Muster« nennt. Diese Muster waren ihr durch die Kultur eingepflanzt worden und strukturierten nun ihr Denken durch Begriffe wie etwa schmieriger Typ, Fairplay, Träume, Skurrilität, Spinner, Neid der Besitzlosen, Ziele, du und ich. 43
Erica lernte, dass eine Kultur kein Rezeptbuch ist, das Gleichförmigkeit hervorbringt. Jede Kultur hatte ihre eigenen internen Debatten und Spannungsverhältnisse. Alasdair MacIntyre weist darauf hin, dass sich durch jede vitale Kultur auch Konflikte als roter Faden ziehen, dass also auch abweichendes Verhalten zulässig ist. Zudem nähern sich Kulturen im Zeitalter der Globalisierung nicht etwa einander an, sondern sie scheinen sich auseinanderzuentwickeln. 44
Erica lernte auch, dass nicht alle Kulturen gleich sind. Sie wusste, dass sie nicht so denken sollte. Sie war lange genug in Denver gewesen, um zu wissen, dass sie glauben sollte, alle Kulturen wären wunderbar und sie wären es alle auf ihre eigene, einzigartige Weise. Aber sie war keine reiche Göre von einer besseren Vorstadt-Highschool. Sie konnte sich diesen Blödsinn nicht leisten. Sie musste wissen, was zu Erfolg und was zu Misserfolg führte. Auf der Suche nach Orientierung und nützlichen Lehrstücken des Lebens sah sie sich die Welt und die Geschichte genau an.
Zufälligerweise stieß sie dabei auf einen Stanford-Professor namens Thomas Sowell, der eine Reihe von Büchern geschrieben hatte, unter anderem Race and Culture, Migrations and Cultures und Conquests and Cultures, in denen sie einige der Dinge fand, die sie wissen wollte. Erica wusste, dass sie Sowells Ideen eigentlich ablehnen sollte. All ihre Lehrer taten das. Aber seine Beschreibungen deckten sich mit der Welt, die sie Tag für Tag um sich herum erlebte. »Kulturen existieren nicht als bloße statische ›Unterschiede‹, die es zu verklären gilt«, schreibt Sowell. »Sie konkurrieren miteinander als bessere und schlechtere Problemlösungsansätze – besser und schlechter nicht vom Standpunkt irgendeines Beobachters, sondern vom Standpunkt der Menschen selbst, die mit den sperrigen Realitäten des Lebens ringen und diese zu bewältigen trachten.« 45
Erica hatte bemerkt, dass einige Gruppen andere auszustechen schienen. Haitianer und Dominikaner leben auf derselben Insel, aber das Bruttoinlandsprodukt der Dominikaner ist pro Kopf fast viermal so hoch wie das ihrer Nachbarn. 46 Ihre Lebenserwartung ist 18 Jahre höher, und ihre Analphabetenquote ist 33 Prozent niedriger. Sowohl Juden als auch Italiener lebten während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Lower East Side von Manhattan, aber die Juden schafften den sozialen Aufstieg viel schneller.
Erica fiel auf, dass einige Gruppen, egal wo sie sich ansiedelten, wirtschaftlich erfolgreich waren. Libanesen und Inder aus dem Bundesstaat Gujarat wurden in verschiedenen Gesellschaften und unter unterschiedlichsten Bedingungen weltweit zu erfolgreichen Kaufleuten. Im Jahr 1969 stellte die Minderheit der Tamilen auf Ceylon 40
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