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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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selbst mit Sparsamkeit und Sorgfalt eingerichtete kleine Wohnung in Highgate.
    Ich setzte mich einen Moment lang aufs Bett und versuchte, mir das Drama vorzustellen, das sich in den frühen Morgenstunden hier abgespielt haben musste: den unglücklichen Mr Charters, der mit diesem Jungen um Zuneigung gerungen hatte und sich unversehens in einem Kampf um seine Würde wiederfand, als er das Opfer eines Raubes, mit dem Tod bedroht und schließlich verhaftet wurde, und das alles innerhalb einer Stunde. Ich empfand Mitleid mit ihm und fragte mich, ob er wenigstens sein verzweifeltes körperliches Bedürfnis hatte befriedigen können, bevor der Schrecken seinen Anfang nahm. War er in eine Falle getappt oder einfach ein unglückliches Opfer der Umstände geworden? Vielleicht war er doch kein so ruhiger Mensch, wie David Cantwell gedacht hatte, und auf der Suche nach einer Befriedigung, die nicht im Angebot gewesen war.
    Meine Füße waren müde nach der Reise, und ich erhob mich langsam, zog Schuhe und Socken aus und hängte mein Hemd über die Lehne des Stuhls. So stand ich in Hose und Unterhemd im Zimmer, als es an der Tür klopfte und Mrs Cantwell meinen Namen rief. Ich überlegte kurz, ob ich zumindest das Hemd schnell wieder anziehen sollte, um die Form zu wahren, aber mir fehlte die Kraft, und es war ja auch nicht so, sagte ich mir, dass es anstößig gewesen wäre, mich der Frau im Unterhemd zu zeigen. Ich machte auf. Mrs Cantwell hielt ein Tablett in der Hand.
    »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe, Mr Sadler«, sagte sie und lächelte auf ihre nervöse Art, die zweifellos das Ergebnis jahrelanger Unterwürfigkeit war. »Ich dachte, Sie sind vielleicht hungrig und dass wir Ihnen nach den Unannehmlichkeiten eine Kleinigkeit schuldig sind.«
    Ich sah auf das Tablett, auf dem neben einem Roastbeef-Sandwich und einem schmalen Stück Apfelkuchen eine Kanne Tee stand, und empfand gleich Dankbarkeit. Mir war nicht klar gewesen, wie hungrig ich war, bis der Anblick des Essens es mir unmittelbar bewusst machte. Ich hatte morgens in London vor der Abreise natürlich noch gefrühstückt, aber ich aß morgens nie viel, eine Scheibe Toast, und dazu gab es eine Tasse Tee. Das Angebot des Speisewagens im Zug war erbärmlich gewesen, trotzdem hatte ich, um meinen Hunger zu stillen, eine lauwarme Hühnerpastete bestellt, sie nach der Hälfte aber angewidert stehen lassen. So kam es, dass ich nach den zwei Bier im Carpenter’s Arms nun einen wahren Heißhunger verspürte, und ich öffnete die Tür ein Stück weiter, damit Mrs Cantwell eintreten konnte.
    »Danke sehr, Sir«, sagte sie und zögerte einen Moment, bevor sie sich umsah, um sich zu vergewissern, dass nichts mehr an die schändlichen Vorgänge der letzten Nacht erinnerte. »Ich stelle es einfach auf den Tisch dort, wenn Sie nichts dagegen haben.«
    »Das ist sehr nett von Ihnen, Mrs Cantwell«, sagte ich. »Ich hätte Sie um diese Uhrzeit nicht mehr um etwas zu essen bitten mögen.«
    »Aber das macht doch nichts«, sagte sie, drehte sich um und lächelte ganz leicht. Dabei musterte sie mich sorgfältig von oben bis unten und sah so eindringlich auf meine nackten Füße, dass es mir unangenehm wurde und ich mich fragte, was sie daran nur so interessieren mochte. »Werden Sie morgen mit uns zu Mittag essen, Mr Sadler?«, fragte sie und hob den Blick wieder. Ich hatte den Eindruck, dass sie etwas mit mir besprechen wollte, jedoch fürchtete, nicht die richtigen Worte dafür zu finden. So willkommen mir das Essen war, für sie war es doch eindeutig nur ein Türöffner.
    »Nein«, sagte ich. »Ich bin um eins verabredet, das heißt, ich gehe am späten Vormittag. Wenn ich früh genug aufwache, möchte ich mir vorher noch ein wenig die Stadt ansehen. Kann ich eventuell meine Sachen hierlassen und wieder abholen, bevor ich den Abendzug nehme?«
    »Aber natürlich.« Sie wich nicht von ihrem Platz und machte keinerlei Anstalten, das Zimmer zu verlassen. Ich blieb stumm und wartete, dass sie mit dem herausrückte, was sie auf dem Herzen hatte. »Was David betrifft«, sagte sie endlich. »Ich hoffe, er hat sich nicht komisch benommen?«
    »Aber nein«, sagte ich. »Er war sehr diskret in seiner Erklärung. Bitte glauben Sie auch nicht einen Moment, dass ich …«
    »Nein, nein«, sagte sie und schüttelte schnell den Kopf. »Das meine ich nicht. Die Sache haben wir hinter uns gebracht, hoffe ich, und müssen sie nie wieder erwähnen. Nein, aber manchmal kann er Soldaten zu viele

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