Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
Vom Netzwerk:
vor Eifersucht und fühlte mich gedemütigt, hatte ich mich doch, ohne es zu merken, fürchterlich verliebt. Nichts davon war mir bewusst gewesen, und die beiden jetzt zusammen zu sehen und mir vorzustellen, was sie taten, wenn sie allein waren und ich anderswo, stürzte mich in bittere Qualen, und ich empfand nur noch Hass auf sie.
    Trotzdem, es war Sylvia Carter gewesen, die mir, dem unerfahrenen Jungen, gesagt hatte, dass sich ihr beim Anblick meines Körpers die Haare aufstellten. Aber wenn ich mich jetzt betrachtete, von zwei Jahren Krieg gezeichnet, das früher blonde Haar lehmig hellbraun und kraftlos, die Rippen unter der Haut sichtbar, die linke Hand voller hervortretender Venen und stellenweise verfärbt, die rechte immer wieder unentschuldbar zuckend und zitternd, die Beine dünn und das Geschlecht wie abgestorben stumm, konnte ich mir nur vorstellen, dass sich ihr die Haare heute lediglich vor Abscheu aufstellen würden. Dass mich die ältere Dame im Zug für schön gehalten hatte, war ein Witz. Ich war unansehnlich, verbraucht.
    Ich zog meine Unterwäsche wieder an, weil ich nicht nackt schlafen wollte. Der Gedanke, Mrs Cantwells abgewetztes Bettzeug direkt auf meinem Körper zu spüren, hatte etwas unangenehm Intimes und schien mir unerträglich. Ich war einundzwanzig Jahre alt und hatte bereits beschlossen, dass dieser Teil meines Lebens vorüber war. Wie dumm von mir. Zweimal verliebt, dachte ich, als ich die Augen schloss und meinen Kopf auf das dünne Kissen legte, das ihn höchstens um drei, vier Zentimeter von der Matratze anhob. Zweimal verliebt und zweimal vernichtet.
    Der Gedanke an meine zweite Liebe drehte mir augenblicklich den Magen um, meine Augen flogen auf, und ich sprang aus dem Bett. Mir blieben nur Sekunden, um das Waschbecken zu erreichen, in das ich mein Bier, das Sandwich, den Tee und den Apfelkuchen in zwei schnellen Stößen erbrach. Das unverdaute Fleisch und das schwammige Brot boten einen äußerst unangenehmen Anblick auf dem Weiß des Porzellans, und ich spülte alles schnell in den Ausguss.
    Schwitzend sackte ich auf den Boden, die Knie gegen das Kinn gedrückt. Ich schlang die Arme um die Beine, zog sie an den Körper und zwängte mich in die Lücke zwischen Waschbecken und Wand. Die Augen fest zugekniffen, während mich die Bilder bedrängten.
    Warum war ich hergekommen?, fragte ich mich. Was dachte ich mir eigentlich? Falls ich Erlösung suchte: Die würde es hier nicht geben. Verständnis? Das konnte hier niemand haben.
    Und Vergebung verdiente ich nicht.
    Ich erwachte am nächsten Morgen aus einem überraschend ungestörten Schlaf und war der Erste im Bad, das den Gästen der sechs Zimmer in Mrs Cantwells Etablissement zur Verfügung stand. Das Wasser war bestenfalls lauwarm zu nennen, aber es erfüllte seinen Zweck, und ich wusch meinen Körper mit dem Stück Seife, das in meinem Zimmer für mich bereitgelegen hatte. Nachdem ich mich vor dem kleinen Spiegel rasiert und mir das Haar gekämmt hatte, fühlte ich mich ein wenig zuversichtlicher, was den vor mir liegenden Tag betraf. Die Morgentoilette hatte mich mit neuen Kräften belebt, und ich kam mir etwas gesünder vor als noch am Abend zuvor. Ich streckte die rechte Hand vor mich hin und betrachtete sie, aber meine Finger blieben ruhig, und ich entspannte mich etwas und versuchte, nicht daran zu denken, wie oft sie mich heute wohl noch im Stich lassen mochten.
    Da ich mich nicht in eine Unterhaltung verwickeln lassen wollte, entschied ich mich gegen ein Frühstück in der Pension und schlich mich kurz nach neun die Treppe hinunter und aus der Haustür, ohne ein Wort zu meiner Gastgeberin oder ihrem Sohn, die ich im Esszimmer herumhantieren und wie ein altes Ehepaar streiten hörte. Die Tür zu meinem Zimmer hatte ich offen gelassen und meine Tasche aufs Bett gestellt.
    Der Morgen war frisch und hell, der Himmel ohne Wolken oder sonst einen Hinweis darauf, dass es später regnen würde. Dafür war ich dankbar. Ich war noch nie in Norwich gewesen, kaufte an einem Straßenstand einen kleinen Plan und gedachte, mir ein, zwei Stunden lang die Stadt anzusehen. Meine Verabredung war erst um ein Uhr, was mir reichlich Zeit ließ, einige der örtlichen Sehenswürdigkeiten zu besuchen und mich anschließend in der Pension noch einmal kurz frisch zu machen, bevor ich unseren Treffpunkt aufsuchte.
    Ich trat auf die Brücke der Prince of Wales Road und sah einen Moment lang hinunter in die Yare, die schnell darunter verschwand.

Weitere Kostenlose Bücher