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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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eröffnen.
    Natürlich hoffte mein Vater, dass ich einmal in das Familienunternehmen eintreten würde. Das Geschäft hieß Sadler & Son, und er wollte, dass das auch weiterhin zutraf. Aber so weit kam es nicht. Kurz vor meinem sechzehnten Geburtstag wurde ich aus dem Haus geworfen und kehrte nur noch ein Mal, mehr als anderthalb Jahre später, dorthin zurück. Nachmittags, bevor ich nach Aldershot fuhr.
    »Die Wahrheit ist, Tristan«, sagte mein Vater, als er mich an jenem Tag vorsichtig hinaus auf die Straße schob und mir dabei seine dicken Finger fest gegen die Schulterblätter drückte, »dass es das Beste für uns alle wäre, wenn dich die Deutschen gleich erwischten.«
    Das war das Letzte, was er je zu mir gesagt hat.
    Ich schüttelte den Kopf, blinzelte ein paarmal und wusste nicht, warum ich mir von diesen Erinnerungen den Morgen verderben ließ. Bald schon standen Tee, Eier und Toast vor mir, und als ich aufblickte, stellte ich fest, dass die Kellnerin noch immer da war, die Hände wie zum Gebet gegeneinandergedrückt und mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Ich sah sie an, die volle Gabel auf halbem Weg zum Mund, und fragte mich, was sie wollte.
    »Alles in Ordnung, Sir?«, sagte sie freundlich.
    »Ja, danke«, antwortete ich, und das genügte offenbar, um sie zufriedenzustellen, denn schon eilte sie zurück hinter die Theke und wandte sich ihrer nächsten Aufgabe zu. Es war immer noch ungewohnt für mich, in aller Ruhe und das essen zu können, was mir gefiel, hatte ich doch mehr als zwei Jahre lang in der Armee alles in mich hineinstopfen müssen, was vor mich auf den Tisch gestellt wurde, eingeklemmt zwischen die Ellbogen anderer Soldaten, die das Essen verschlangen und zerkauten, als wären sie brünstige Schweine auf dem Hinterhof eines Bauern und keine Engländer, die von ihrer Mutter Manieren beigebracht bekommen hatten. Auch die Qualität des Essens und der neuerliche Überfluss überraschten mich immer wieder, obwohl doch beides noch längst nicht mit dem vergleichbar war, was es vor dem Krieg gegeben hatte. Aber in ein Café wie dieses zu gehen, sich zu setzen, die Karte zu studieren und zu sagen: »Wissen Sie, ich glaube, ich nehme das Pilzomelett«, »Ich hätte gerne die Fischpastete« oder: »Einmal die Bratwurst mit dem Püree, bitte, und ja, ich nehme auch von der Zwiebelsoße«, das war nach wie vor ein außergewöhnliches Gefühl, das sich kaum in Worte fassen ließ. Es war eine der einfachen Freuden im Gefolge menschlicher Entbehrungen.
    Ich zahlte meine paar Pence, dankte der Frau, verließ das Café und folgte der Queen Street weiter in Richtung Kirchturm, den Blick auf das nach und nach sichtbar werdende herrliche klösterliche Gebäude, seine Umfriedung und Tore gerichtet. Ich liebte Kirchen und Kathedralen, was weniger mit dem religiösen Aspekt zu tun hatte, schließlich verstand ich mich eindeutig als Agnostiker, sondern mit dem Frieden und der Ruhe, die sie boten. Pub und Kirche waren die beiden gegensätzlichen Fluchtpunkte meines Daseins, der eine laut und voller Leben, der andere ruhig und an den Tod gemahnend. Es hat etwas Tröstendes für den Geist, sich in eine der Bankreihen einer großen Kirche zu setzen und die kühle Luft einzuatmen, die seit Jahrhunderten mit dem Geruch von Weihrauch und brennenden Kerzen durchsetzt ist, zu den außerordentlich hohen Decken aufzublicken, die einen unbedeutend erscheinen lassen im großen Muster der Dinge, die Kunst zu bewundern, die Friese und geschnitzten Altäre, die Statuen, die dem Betrachter die Arme entgegenrecken, als wollten sie ihn umarmen, und einen der unerwarteten Momente zu erleben, wenn ein Chor hoch oben probt, zu singen beginnt und den Zuhörer von aller Verzweiflung befreit, die ihn hergebracht hat.
    Einmal, außerhalb von Compiègne, hatte unser Regiment für eine Stunde knapp zwei Kilometer von einer kleinen Kirche entfernt haltgemacht, und obwohl wir den ganzen Morgen marschiert waren, beschloss ich, sie aufzusuchen, weniger aus dem Verlangen nach spiritueller Erbauung als aus dem Wunsch heraus, den anderen Soldaten für eine Weile zu entkommen. Die Kirche war nichts Besonderes, ein ziemlich einfacher Bau, innen wie außen, und doch tat es mir in der Seele weh, wie verlassen sie wirkte, ohne die Atmosphäre einstiger Zusammenkünfte der Gläubigen, die Gemeinde in Sicherheit gebracht, in den Schützengräben oder auf dem Friedhof. Ich trat zurück ins Freie und wollte mich für einen Moment ins Gras legen, bevor ich

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