Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler
wieder ins Glied musste, vielleicht sogar kurz die Augen in der Mittagssonne schließen und mich an einen glücklicheren Ort träumen. Da sah ich einen anderen aus unserem Regiment, Potter, der leicht schräg an der Kirchenwand lehnte, sich mit einer Hand daran abstützte und laut gegen die jahrhundertealten Steine erleichterte. Ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen, rannte ich zu ihm und stieß ihn zu Boden. Überrascht fiel er hin, entblößt, und bespritzte sich Hemd und Hose. Doch schon war er wieder auf den Beinen, sammelte sich fluchend und warf jetzt mich nieder, um sich für die Erniedrigung zu rächen. Wir mussten von einer Handvoll anderer Soldaten getrennt werden, die ebenfalls den Weg auf sich genommen hatten. Ich warf Potter vor, die Kirche zu entweihen, er nannte mich einen religiösen Fanatiker, und wenn der Vorwurf auch falsch war, widersprach ich doch nicht. Erst langsam beruhigten wir uns und hörten auf, uns gegenseitig zu beschimpfen, und als wir uns dann auch noch die Hände reichten und Freunde nannten, ließen sie uns los, und wir traten den Rückweg an. Potters Frevel hatte mich verstört.
Ich ging das Kirchenschiff der Kathedrale hinunter, warf verstohlene Blicke auf das Dutzend Leute, das in stillem Gebet versunken in den Bänken verteilt saß, und fragte mich, vor was für Bedrängnissen diese Menschen Zuflucht suchen mochten oder für welche Sünden sie um Vergebung baten. An der Kreuzung mit dem Quergang drehte ich mich um und sah hinauf zu der Stelle, wo sonntagmorgens der Chor stehen und seinen Lobgesang singen würde. Ich ging weiter in südlicher Richtung und gelangte durch eine offene Kirchentür hinaus in ein Labyrinth, in dem ein paar Kinder im hellen Morgenlicht Fangen spielten. Von dort wanderte ich an der Außenfassade der Kathedrale entlang in östlicher Richtung bis zu ihrem Ende, wo ich mich vor einem einzelnen Grab wiederfand, das sich deutlich von den übrigen abhob. Sein nüchterner Charakter überraschte mich, ein steinernes Kreuz auf einem zweistufigen Fundament, und ich beugte mich vor und stellte fest, dass es sich um das Grabmal von Edith Cavell handelte, der Krankenschwester und großen Patriotin, die Hunderten von englischen Kriegsgefangenen mithilfe eines unterirdischen Ganges zur Flucht aus Belgien verholfen hatte und im Herbst 1915 dafür hingerichtet worden war.
Ich stellte mich aufrecht, ohne ein Gebet für sie zu sprechen, das niemandem geholfen hätte, schenkte ihr jedoch einen Augenblick des Gedenkens. Natürlich war Schwester Cavell zur Heldin erklärt worden. Zur Märtyrerin. Und sie war eine Frau. Endlich einmal in ihrer Geschichte schienen die Engländer diesen Umstand zu feiern, und es erfüllte mich mit einem Gefühl der Freude zu sehen, wie sie beigesetzt worden war.
Schritte im Kies machten mich auf das Näherkommen von jemandem aufmerksam, tatsächlich waren es zwei Leute, die in den gleichen Schrittrhythmus gefallen waren, wie eine nächtliche Wache, die über das Gelände patrouillierte. Ich ging ein Stück weiter, wandte mich ab und tat so, als studierte ich die bunten Kirchenfenster über mir.
»Wir sollten bis drei Uhr die endgültige Liste aufstellen können«, sagte der jüngere Mann, der wie ein Küster aussah, zu seinem älteren Begleiter. »Vorausgesetzt natürlich, wir kommen mit den Dingen zuvor schnell durch.«
»Es wird so lange dauern wie nötig«, erwiderte der andere Mann mit Nachdruck in der Stimme. »Ich werde auf jeden Fall meine Meinung dazu sagen, das verspreche ich Ihnen.«
»Selbstverständlich, Reverend Bancroft«, kam die Antwort. »Es ist eine schwierige Situation, dessen sind wir uns alle bewusst. Alle dort verstehen Ihren Schmerz und Ihre Trauer.«
»Unsinn«, gab der Mann zurück. »Nichts verstehen sie und werden es auch nie. Ich werde ihnen sagen, was ich denke, daran zweifeln Sie bitte nicht. Aber hinterher muss ich schnell nach Hause. Meine Tochter hat etwas arrangiert. Ein … nun, das ist schwer zu erklären.«
»Ist es ein junger Mann?«, fragte der Küster in leicht anzüglichem Ton, und der Blick, den er damit erntete, setzte allen ähnlichen Fragen ein Ende.
»Es wird nicht so viel ausmachen, wenn ich etwas zu spät komme«, sagte der Reverend, und seine Stimme verriet seine Unsicherheit. »Unsere Besprechung ist weit wichtiger. Im Übrigen bin ich mir noch nicht ganz klar darüber, wie weise die Pläne meiner Tochter sind. Sie hat alle möglichen Ideen, wissen Sie, und nicht alle sind immer
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