Das spanische Medaillon
nicht zu bremsen, wenn sie einmal in einer Vorstellung Fuß gefasst hat, so falsch diese auch sei. Aus Falschem folgt Beliebiges , wie es der gute Euler einmal formuliert hat – das gilt für die Einbildungskraft nicht minder als für die Mathematik.
In der sogleich rege werdenden fraulichen Sorge, es könnte sich bei dem Leidenden um den eigenen Gatten handeln, driftete ich im sich nach hinten lichtenden Gedränge auf die beiden Figuren zu, die sich – ohne dass dies nun weiters von irgendeinem außer mir beachtet wurde – von der Domkirche entfernten. Ich war aus der Menge heraus und fürchtete, sie verloren zu haben. Ich hatte sie verloren! Enttäuscht suchte ich die Kirchenmauer ab, wo ich sie vermutete. Weiter würde man doch mit einem, der sich schlecht fühlt, nicht laufen? Mir zumindest reicht schon der eine freie Atemzug, um mich von der Beklemmung einer Foule wieder leidlich zu erholen. Ich ließ den Blick schweifen – da erspähte ich sie am königlichen Waschhaus zwischen Domkirche und Börse! Eben verschwanden sie in der letzten Tür zur Börse hin, wo die beiden obersten königlichen Waschfrauen wohnten. Kein schlechter Gedanke: etwas frisches Wasser, eine warme Kompresse. Vielleicht konnte ich helfen? Also lief ich rasch hinüber, die Röcke geschürzt. Ein weiblicher Turnverein – da müsste man sich vor allem Gedanken über die Bekleidung machen. Hosen, freilich, aber vor allem auch Schuhe! Die Schuhe wären das Hauptproblem ...
Ich kam außer Atem an und wartete daher noch gut eine Minute, bis ich an der Wohnung der Schwestern Schmidt klopfte. Die ehrenwerten Damen waren scheinbar schon ganz mit der Hilfeleistung beschäftigt – oder aber sie waren draußen unter den Zuschauern? Im ersten Moment wollte ich mich diskret wieder zurückziehen, die beiden Eindringlinge sich selbst oder den Schmidts überlassend, da hörte ich jedoch unterdrückte Würgelaute aus dem Inneren des Gebäudes. Ich schlich durch das Schlafzimmer und eine weitere Kammer zur zweiten Tür und öffnete sie. Nun stand ich im düsteren Flur, der auf die große Waschstube in der Mitte zuführte, und hörte Getrappel und Keuchen von dort kommen. Dann einen harten Schlag und das Aufschlagen von etwas Undefinierbarem. Ich zügelte meinen Elan und ging nun eher langsam darauf zu ... Ich kam in die eigentliche, riesige Waschküche, wo sich in der Mitte zwischen vier bis zur Decke aufragenden Säulen mit ionischen Kapitellen ein gigantischer Berg königlicher Schmutzwäsche türmte – Laken aus allen Berliner Schlössern, Leibwäsche der königlichen Familie, des Königs Brüder Prinz Heinrich und Prinz Wilhelm eingeschlossen, deren Stapel klein wie Vorberge daneben lagen. Der Raum war trüb nur beleuchtet von einigen schwach glimmenden Öllaternen an den Säulen. Ich ging langsam um den Textilberg herum zur gegenüberliegenden Wand. Vier Herde für riesige Waschkessel gruppierten sich um einen Schornstein in der Mitte. Vor einem kauerte eine Gestalt, die gerade etwas vom Boden aufhob.
»Was ist geschehen? Kann ich helfen?«, sagte ich und trat vor.
Es war der hilfsbereite breitschultrige Krieger, das sah ich mit einem Blick. Der andere, den er getragen, lag gekrümmt in den Laken, sodass ich seinen Kopf nicht sah. Es war nicht Jérôme – und ich dementsprechend erleichtert. Der Kauernde hatte grau meliertes Haar und einen recht breiten Schädel. Bei meiner Anrede war er nicht im Geringsten zusammengezuckt. Jetzt wendete er sich um, sodass ich ihn erst im Profil, dann Aug in Auge sehen konnte. Die Stirn war hoch und leicht vorgewölbt, wie man es für gewöhnlich bei sehr empfindsamen und nachdenklichen Menschen findet, sofern man Lavaters Physiognomische Fragmente ernst nimmt. Sanfte, fast scheu blickende blaue Augen hatte er und einen schmalen, asketischen, harten Mund. Der gehetzte, irgendwie gemarterte Zug um seine Lippen fiel mir besonders deutlich auf. Es lag körperliche Anstrengung hinter ihm, das war offensichtlich, auch wenn er die Rückenfibern eines zweiten Goliath hatte. Mit durchaus animalisch-weiblicher Anteilnahme nahm ich zur Kenntnis, wie seine Jacke sich spannte, bevor er sich erhob. Insgesamt war es ein sympathisches Gesicht, fand ich, begierig zu erfahren, wie wohl seine Hände aussähen.
Derart optisch gefesselt, auch zusätzlich in Bann geschlagen durch die Tatsache, dass er mich anlächelte – wenn auch eher schmerzverzerrt wie etwa ein Fieberkranker oder vom Branntwein bereits leicht Affizierter
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