Das spanische Medaillon
Oranienburger Tor hinauszogen, dachte ich: Arme Frau!
19
Ich war in meinem Leben Zeugin von vielleicht einhundert Hinrichtungen – die meisten sah ich in der Blutmetropole Paris, und zwar in weniger als drei Tagen. In Berlin hatte ich dagegen von Kindesbeinen an bis zu meiner Heirat nur fünf Exekutionen beigewohnt. Mit der Person und dem Metier des Henkers jedoch hatte ich mich nie befasst. Da ging es mir wie den meisten Menschen: Mit derlei wollte ich nichts zu tun haben.
Nun spürte ich ein inneres Bedürfnis, dieses Dunkelfeld aufzuhellen, und begab mich in des Teufels Lustgarten, indem ich den Scharfrichter aufsuchte, der – wie es sich für einen Henker und Wasenmeister oder Abdecker gehörte – draußen vor den Stadtmauern wohnte.
Johann Friedrich Wiggert, ein hagerer Mann in den Vierzigern, lebte mit seiner Familie in der Scharfrichterei vor dem Oranienburger Tor, am Weg nach Reinickendorf und Oranienburg. Bis zum Galgen am Hamburger Tor hatte er eine Viertelstunde zu Fuß zu laufen, was ihm – besonders im Winter – sicher nicht eben Vergnügen bereiten durfte, wie ich beim Hinausfahren mutmaßte.
Die Ludergrube dagegen, wo ich ihn gerade dabei fand, den noch dampfenden Kadaver eines Pferdes abzudecken, lag nur ein paar Meter hinter seinem hoch ummauerten Gehöft. Er sah mich kommen, machte aber keine Anstalten, von seinem blutigen Tun abzulassen. Er löste die Tierhaut mit einem Schaber vom Fleisch, was einen schrecklichen Ton von reißendem Leinen ergab. Stilecht für ein Gemälde des unseligen Caspar David Friedrich lösten sich von einem der kahlen Eichbäume im Hintergrund zögerlich einige lautstarke Saatkrähen. Wiggert schaute kaum auf, als ich mich näherte.
»Herr Wiggert? Haben Sie einen Moment Zeit für mich?«
»Werte Dame, Sie sehen ja, dass ich sehr beschäftigt bin! Nein, ich habe keine Zeit.«
Diesmal hatte ich Jérôme zu Hause gelassen, der mit der Vorbereitung der Serienproduktion des mobilen Feldtelegrafen beschäftigt war. Wiggert machte sich mürrisch weiter am Kadaver zu schaffen und hatte meine Anwesenheit scheinbar vergessen, als ich ihn mit Hüsteln daran zu erinnern suchte.
»Werteste, bitte, ich kann Ihnen weder etwas Strick noch etwas Blut, noch etwas blutgetränkte Erde, noch ein Stück Galgenholz verkaufen – ich kann Ihnen auch sonst in nichts zu Diensten sein; weder kann ich Ihnen meine Hand auflegen noch Ihnen beischlafen ...«
»Ach, wie schade!«, entgegnete ich auf diese Unverschämtheit, die mich ganz unvorbereitet traf. »Verlangt man dies oft von Ihnen?«
Er wühlte in den Gedärmen, um sie nebst den übrigen Innereien in einen Gärbottich klatschen zu lassen.
»Tun Sie nur nicht so, als ob Sie kein Wässerchen trüben könnten! Frei heraus: Warum sind Sie hier, wenn nicht deswegen? Langsam kann ich diese Verstellung der feinen Damen nicht mehr ertragen. Hätte ich gewusst, was auf mich zukommt, ich hätte mich für einen anderen Beruf entschieden ... Nur: Einmal Henker, immer Henker! Das gilt für den Einzelnen, noch mehr aber für die Familie.«
Damit waren wir schon mittendrin. Ich stellte mich vor und bat ihn um Verzeihung für den Überfall. Als er das Schreiben des Königs sah (das ich ihn allerdings mit seinen blutigen Pfoten nicht anrühren ließ), entschuldigte er sich. Ich brandete zurück vor dem starken Fuselgeruch, den er verströmte.
»Als Nachrichter ist man übel dran. Man wird öffentlich behandelt wie ein Aussätziger, zugleich aber hofiert wie ein Wundertätiger. Dabei ist das Blut des Geköpften nicht verschieden von dem eines gewöhnlichen armen Schweins ... Oh, Verzeihung! Eine Dame! Ha, die Damen! Sie kommen tatsächlich und wollen ... Oh, Verzeihung, konnte ja nicht wissen ... Kennen Sie die Sage von der Alraune?«
Ja, die kannte ich: eine deformierte Wurzel, welche – vom Samen der Gehenkten genährt – Zauberkräfte entfalten sollte. Die Kräuterweiblein suchten sie unterm Galgen in des Teufels Lustgarten. Ein fürchterliches Ammenmärchen ...
»Ich könnte ihnen Meerettich verkaufen, sie würden ihn mir aus der Hand reißen. Alles, was ich berühre, ist geheiligt, allerdings auf unheilige Weise.«
Er lachte und schien mir schon ein wenig den Verstand verloren zu haben. Ich musste weiterkommen, daher fragte ich rundheraus:
»Kennen Sie andere Vettern ?«
Er lugte misstrauisch.
»Woher wissen Sie um die Bedeutung dieses Wortes?«
»Aus einer alten Familie, in der Ihr Handwerk seit Generationen betrieben wird,
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