Das Spektrum der Toten
verschiedene Tees keinen Erfolg zeigten, ging sie zu kräftigeren Mitteln über. Agnes musste dreimal täglich eine verdünnte Lösung aus Schmierseife trinken. Agnes empfand Ekel vor dieser Prozedur. Doch sie glaubte fest an ihre Wirkung. Das Getränk blieb ohne Folgen - es rief keine innere Erkrankung hervor, wie Agnes befürchtet hatte -, es führte aber auch nicht zu der ersehnten Abtreibung.
Frau Quellmalz musste erkennen, dass sie mit dieser Rosskur nicht weiterkam. Sie musste nun andere Maßnahmen ergreifen. Sie bestellte Agnes für die nächste Nacht. Sie werde die Abtreibung instrumentell vornehmen. Dann sei Agnes mit Sicherheit von allen Sorgen befreit.
Agnes verbrachte die Nacht und den nächsten Tag voller Unruhe. Nur mühsam konnte sie die Büroarbeit bewältigen. Ihre Gedanken schweiften ab, angstvolle Vorstellungen drängten sich ihr immer wieder auf. Wie geht der Eingriff vor sich? Wird es weh tun? Was wird danach? Werde ich heimgehen können und alles wird endlich vorbei sein?
Am späten Abend verabschiedete sich Agnes von den Eltern. Sie sagte, sie wolle mit Horst noch ins Kino gehen. Als sie bei Horst eintraf, blickte dessen Wirtin Agnes missbilligend an, es war schon nach 21 Uhr. Agnes teilte ihrem Freund mit, der Eingriff würde heute noch vorgenommen. Horst wollte sie begleiten, doch Agnes wünschte es nicht, sie hatte Frau Quellmalz versprechen müssen, dass niemand etwas davon erfahre.
Gegen 22 Uhr erschien Agnes bei Frau Quellmalz. Diese begrüßte sie mit einem optimistischen Lächeln. »Es ist gleich alles vorüber.« Sie schickte ihren Jungen ins Wohnzimmer, bat Agnes in die Küche und verschloss die Tür.
Nun war es soweit. Agnes verspürte Trockenheit im Mund und wachsende Panik. Am liebsten wäre sie davongelaufen. Frau Quellmalz forderte sie auf, ihren Unterleib freizumachen und sich mit gespreizten Beinen auf den Küchentisch zu setzen. Agnes entkleidete sich und sah, wie Frau Quellmalz ein Töpfchen vom Herd nahm, eine große Zinnspritze mit einem leicht gebogenen Ansatzrohr ergriff und damit die Flüssigkeit aus dem Töpfchen aufzog.
»Sie erhalten eine Seifenwassereinspritzung«, erklärte Frau Quellmalz, »und die wirkt auch bei hartnäckigen Fällen Wunder. Ganz ruhig, es geht alles ganz schnell und schmerzlos.«
Im gleichen Augenblick, als Frau Quellmalz das Spritzenrohr in die Gebärmutter einführen wollte, sank Agnes' Oberkörper hintenüber auf die Tischplatte. Bestürzt zog Frau Quellmalz die Spritze heraus. Sie befürchtete, Agnes sei ohnmächtig geworden.
Aber Agnes war tot.
Frau Quellmalz war entsetzt. Sie konnte sich den tödlichen Unfall nicht erklären. Sie hatte ja noch gar nicht mit der Einspritzung der Seifenlösung begonnen. Es war doch nicht ihr Fehler! Aber das half ihr jetzt auch nicht weiter. Eine Tote in ihrer Wohnung - mit entblößtem Unterleib!
Was hier geschehen war, würde jedem Arzt, jedem Polizisten sofort offenbar.
Als gewerbsmäßige Abtreiberin, in diesem Fall mit Todesfolge, ginge sie mehrere Jahre ins Zuchthaus! Sie musste sofort handeln.
Mit einigem Geschick gelang es ihr, die Tote wieder anzukleiden. Dann schloss sie die Tür auf und rief ihren Sohn. »Es ist etwas passiert, meine Besucherin ist plötzlich tot zu Boden gesunken. Ich könnte verdächtigt werden, sie getötet zu haben. Sie muss weg aus dieser Wohnung. Geh hinaus und sieh nach, ob jemand in der Nähe ist.« Der Junge nickte und ging hinaus auf die nächtliche Straße. Sie lag leer und verlassen im Licht der Gaslaternen.
Der Junge kehrte zur Mutter zurück. Er blickte scheu auf die Tote.
»Ich habe niemanden gesehen, Mutter.«
Mit Hilfe des Jungen lud sich Frau Quellmalz die Leiche auf den Rücken, trug sie die Treppe hinab, betrat die Straße und schleppte dann ihre Last einige Häuserblocks weiter. Sie legte die Tote auf den Gehweg und kehrte zurück - unbeobachtet - wie sie glaubte.
Doch das war ein Irrtum. In dem Haus gegenüber ihrer Wohnung hatte eine schlaflose Frau am Fenster gesessen und den Vorgang beobachtet.
Als am nächsten Tag der Leichenfund bekannt wurde, meldete sie sich bei der Polizei.
Bei einer Durchsuchung der Wohnung von Frau Quellmalz
wurde die Zinnspritze, versteckt im Ofenrohr, gefunden. Frau Quellmalz wurde festgenommen.
Nach anfänglichem Leugnen gestand sie, eine Abtreibung versucht zu haben, bei der die junge Frau starb. Sie versicherte, am Tode der jungen Frau unschuldig zu sein, sie hätte die Spritze noch gar nicht in Tätigkeit
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