Das Spektrum der Toten
könnte. Krankhafte Veränderungen an den inneren Organen hatten sich nicht feststellen lassen.
Die Kripo hatte jedoch einen Vorfall ermittelt, den Kriminalinspektor Müller kommentarlos am Schluss seines Berichtes erwähnte: Zwei Tage vor ihrem Tod vergnügte sich Thea mit ihren Mitschülerinnen mit dem für gläubige Mädchen denn doch etwas pietätlosen »Bibelaufschlagen«. Dabei ließen sie die Bibel so zu Boden fallen, dass die Seiten im Fallen aufblätterten. Dann lasen sie die ersten Worte, die ihnen beim Blick auf die aufgeschlagene Seite ins Auge fielen. Das sollte eine Art Wahrsagung für künftige Zeiten oder für das ganze Leben sein. Im allgemeinen nahmen die Mädchen diese Weissagung nicht so ernst und machten sich darüber lustig. Als Thea an der Reihe war und die Bibel geworfen hatte, las sie folgende Prophezeiung: »Freue dich, denn du wirst eingehen zum Herrn.« Nach dem Gelächter der anderen Mädchen soll sich Thea »betroffen und schweigend« zurückgezogen haben.
Es scheint nicht abwegig, dieses rätselhafte Ende »eines gesunden jungen Mädchens« als psychogenen Tod zu deuten. Äußere Todesursachen wie beispielsweise Gift waren ebensowenig gefunden worden wie endosomatische, also körperlich bedingte.
Im Gegensatz zu ihren Mitschülerinnen, für die das Spiel mit der Bibel ein Spaß war, zweifelte die streng gläubige Thea wohl nicht an der Wahrheit der Bibel und der Erfüllung ihrer Prophezeiung. Für sie war das Spiel zum bitteren Ernst geworden. Thea hatte, als sie nachträglich über dieses »Spiel« nachdachte, nach ihrer Meinung ein Tabu verletzt: Sie hatte mit dem HEILIGEN WORT Gottes Spott getrieben und das Gebot der Ehrfurcht vor Gott verletzt - eine Sünde, die nach ihrem religiösen Verständnis Strafe erforderte. Diese Strafe war Erfüllung der Prophezeiung: ein früher Tod.
Die Macht dieser Angst war so groß, dass sie den Körper tötete. Schleichend, aber sicher. Eine Art Tabutod.
Aus der Völkerkunde ist bekannt, dass unterentwickelte Völker, die noch magischem Denken verhaftet sind, diesen psychogenen Tod als Folge der Verletzung eines religiösen Tabus verstehen.
Es werden Fälle beschrieben, wo Angehörige der Aborigines, der Maori und anderer polynesischer Stämme sterben, allein durch die Angst, wegen religiöser Verfehlungen den Tod verdient zu haben.
Ein Forschungsreisender berichtete, dass elf Inder seines Gefolges starben, als sie feststellten, dass sie versehentlich Rindfleisch gegessen hatten. Da die Kuh bei den Indern heilig ist, gilt der Genuss von Rindfleisch als Verstoß gegen heilige Gebote, was sie veranlasst zu glauben, wer sie übertrete, müsse sterben. Er fügte hinzu, dass das Fleisch einwandfrei war.
Ein anderer Forscher beobachtete, dass Australneger »aus Todesfurcht, sterben zu müssen, tatsächlich starben«, dass also »die Einbildung, sie seien durch eine geheimnisvolle Macht tödlich gefährdet, auch wirklich den Tod zur Folge haben kann«.
Prof. Dr. W. Middendorf wies darauf hin, dass in manchen Ländern auch heute noch Menschen durch Verfluchung getötet werden. Der Täter veranlasse zum Beispiel einen Medizinmann, seinen Gegner zu verfluchen, und wenn dieser an die Wirkung des Fluchs glaube, »gehe er ein«, im wahrsten Sinn des Wortes. Medizinisch gesehen, sei dies ein psychogener Tod.
Und der Schweizer Kriminologe Dr. R. Herren teilt die Erfahrung mit, unter Umständen könne »eine Todesprophezeiung… auf die Psyche eines sehr suggestiblen Menschen… einen verheerenden Einfluss ausüben, sich im Unterbewusstsein festsetzen und - ähnlich wie ein posthypnotischer Befehl - das Individuum in den Tod treiben«.
… Und sank entseelt zu Boden
Frau Menzel ist 66 Jahre alt. An diesem Septembervormittag bereitet sie sich auf den Gang zu ihrer Ärztin vor, von der sie regelmäßig behandelt wird. Da die Ärztin in der Nähe wohnt, hat Frau Menzel die Praxis bald erreicht.
Die Konsultation verläuft wie immer. Die Ärztin fragt die Patientin nach ihrem Befinden, prüft den Blutdruck und die Pulsfrequenz. Sie nickt, als müsse sie bestätigen, dass der erhöhte Blutdruck normal sei. Seit Jahren war er zur Normalität geworden, als Folge einer Verengung der Herzkranzadern. Die Ärztin verschreibt das erprobte Medikament und wünscht einen guten Heimweg.
Frau Menzel muss auf ihrem Weg nach Hause eine stark befahrene Hauptstraße überqueren. Sie will sich den Weg abkürzen und bereits vor der Ampelkreuzung über die Straße gehen. Sie
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