Das Spektrum der Toten
gesetzt.
Die gerichtsmedizinische Obduktion bestätigte ihre Aussage. Bei einer unsachgemäßen Einspritzung in die Gebärmutter kann mit der Flüssigkeit Luft in die Gebärmutter und von dort in den Kreislauf gelangen. Die Luftblase führt dann zum Herzstillstand.
Aber die Überprüfung des Herzens ergab keine Anzeichen einer Luftembolie. Der äußere Muttermund war unverletzt, die Eiblase nicht eröffnet und nicht von der Gebärmutter abgelöst. Die mikroskopische Untersuchung des Herzfleischs und anderer Organe sowie eine toxikologische Untersuchung der inneren Organe blieben erfolglos. Es gab keine andere Erklärung für den plötzlichen Tod als eine tödliche Schockwirkung.
In einem Aufsatz über »Todesfälle im Rahmen emotionaler Belastung« schrieb 1974 Prof. W. Janssen vom Hamburger Institut für gerichtliche Medizin und Kriminalistik: »Es gehört zum wissenschaftlich gesicherten Erfahrungsgut, dass Emotionen - wie Angst, Freude, Schreck, Erregung, seelischer Schock und psychisches Trauma - im menschlichen Organismus zu verschiedenen Reaktionen führen können.« Sie wirken sich besonders auf Herz und Kreislauf aus. Grundsätzlich bestehe die Möglichkeit, dass solche psychischen Reaktionen durch äußere Eingriffe ausgelöst würden und als somatisch wirksame Faktoren zum Tode führen.
Das war, wie die Obduktion nachwies, bei Agnes Neumeister der Fall gewesen. Die ungewollte Schwangerschaft, die Angst vor den Eltern und schließlich vor dem Eingriff hatten die junge Frau emotional bereits so belastet, dass dann allein der Anblick und die bloße Vorstellung von der Einführung der Spritze genügten, um den tödlichen Schock auszulösen.
Die Mediziner hatten bei der Obduktion keine krankhaften Veränderungen des Herzens gefunden, die den Zusammenbruch des Kreislaufsystems begünstigt hätten. Die meisten Forscher betonen allerdings, der psychogene Tod trete nur dann ein, wenn das Herz bereits vorgeschädigt ist. Das Herz sei dann der affektiv bewirkten Belastung nicht mehr gewachsen.
Dabei, so ergab die Forschung, spiele es keine Rolle, ob die emotionale Belastung dem Außenstehenden unerheblich erscheint. »Je labiler das System ist, desto größer wird die relative Kreislaufbelastung«, schrieb der Wiener Rechtsmediziner W. Boltz. Das auslösende äußere Geschehen schädige oder töte nie unmittelbar. »Es gewinnt erst Bedeutung durch den rein individuell bedingten Erlebniswert.«
Schreck und Schock sind plötzlich auf den Menschen eindringende Ereignisse. Aber nicht allein diese können den psychogenen Tod bewirken.
An einem warmen Septembertag stieg der 76jährige Felix Baumgärtner in die Straßenbahn, der schwarze Anzug und die schwarze Krawatte standen in düsterem Gegensatz zu dem sonnigen Herbsttag. Baumgärtners Ziel war der Friedhof. In einer halben Stunde sollte dort seine Tochter beerdigt werden. Baumgärtners Frau war schon vorausgefahren. Er selber scheute all die traurigen Vorgänge, die eine Beerdigung mit sich brachten - die Begrüßung der Trauergäste, die Beileidsbekundungen, die Kränze, das stumme Warten in der Trauerhalle -, er wollte dem entgehen und erst im letzten Augenblick eintreffen. Baumgärtner empfand den Sonnenschein als bedrückend.
Er und seine Frau hatten Wochen voller Verzweiflung hinter sich, seit sie die Mitteilung erhielten, ihre Tochter habe Selbstmord begangen. Der plötzliche Tod hatte sie überrascht, völlig unvorbereitet getroffen. In ergebnislosen Grübeleien hatten sie nach den Motiven gesucht, Fragen gestellt nach Versäumnissen und Schuld.
Baumgärtner blickte auf die Uhr. Er war sicher zu spät abgefahren. Hoffentlich kam er noch zur rechten Zeit auf dem Friedhof an.
Bilder aus der Vergangenheit tauchten in seiner Erinnerung auf. Glückliche Tage, als Franziska noch ein Kind war.
Baumgärtner schob seine Hand zwischen Hals und Oberhemd. Er versuchte den Kragen etwas zu lockern. Er verspürte Atemnot.
Ein Ruck, quietschende Bremsen, die Straßenbahn blieb stehen. Stand und fuhr nicht weiter.
Baumgärtner erhob sich, ging zur Fahrerkabine und sah eine andere Straßenbahn, die ebenfalls stillstand.
Mehrere Minuten vergingen, 10, 20, Baumgärtner wurde unruhig. Er würde den Friedhof nicht mehr rechtzeitig erreichen. Zu spät kommen, zur Beerdigung seiner Tochter! Seine Frau beunruhigt, die Trauergäste verwundert. Eine Hitzewelle durchflutete ihn, trieb ihm Schweiß auf die Stirn.
Sein Hemd wurde feucht und klebte am ganzen Körper.
Endlich
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