Das Spiel
Sie verstand nun, weshalb er Spiegelsee genannt wurde. Selbst mitten in der Nacht spiegelten sich die Berge im Wasser.
Langsam stieg sie nach unten, vorsichtig, um auf den nassen Stufen nicht auszurutschen, und jetzt erst fiel ihr auf, wie still es auch hier draußen war. Merkwürdigerweise verursachte ihr das keine Gänsehaut, im Gegensatz zu dem Gefühl, das sie eben noch im Inneren des Gebäudes gehabt hatte.
Als sie das Ende der Stufen erreicht hatte, wurde es über ihr merklich dunkler. Das Licht in der Empfangshalle war offenbar ausgegangen und auch die Lampen auf der Rasenfläche.
Ihr Blick wanderte nach rechts, doch von hier aus konnte man den Seitentrakt, wo Roberts Zimmer lag, nicht sehen.
Stattdessen endlose Reihen von Fenstern rechts und links des verglasten Mittelteils. Dachgauben, Balkone, Schornsteine. Nichts deutete darauf hin, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Aber etwas drängte Julia, aus der Sichtweite des Gebäudes zu kommen. Als ob die Fenster unzählige Augen wären, die sie beobachteten.
Menschen waren böse. Nicht Orte.
Julia wandte sich hastig wieder dem See zu. Von der Treppe führte ein schmaler Asphaltweg hinüber zum Ufer und dort am Wasser entlang.
Sie bog nach rechts und ging mit schnellen Schritten los. Je weiter sie kam, desto ruhiger wurde sie und das Gefühl der Unwirklichkeit nahm ab. In der Nähe von Wasser hatte sie sich schon immer wohlgefühlt und sie lauschte erleichtert den Wellen, die leise gegen das Ufer schwappten. Plötzlich waren ihre Gedanken kristallklar.
Jetzt endlich war sie in der Lage, die Fakten zu überdenken. Und die waren einfach. Robert war durchgedreht, keine fünf Stunden, nachdem sie angekommen waren. Was Folgendes hieß: Sie konnten nicht hierbleiben. Sie mussten wieder abreisen. Robert würde es nicht durchhalten. Die heutige Nacht hatte das mehr als deutlich gezeigt. Es war ihre Verantwortung und sie musste handeln, so schnell wie möglich.
Entschlossen zog Julia das Handy hervor. Robert hatte recht. Es war sowieso an der Zeit, sich zu melden. Sie hatte es versprochen und seit Beginn der Reise kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Wie war der Zeitunterschied noch einmal? Sie warf einen Blick auf das Display. Okay, das könnte klappen.
Julia tippte die Nummer ein, die sie auswendig kannte. Mit jedem Tastendruck ertönte das elektronische Signal. Dann tutete es zweimal, dreimal viermal …
… elfmal, zwölfmal.
Verdammt! Es war zwecklos.
Julia wollte schon aufgeben, als plötzlich das Handy in ihrer Hand vibrierte.
Julia brach die Verbindung ab und starrte auf das Telefon.
Das Display zeigte eine SMS.
Ihre Finger zitterten vor Kälte und Aufregung, als sie die Nachricht aufrief.
Liebe Julia,
willkommen am Grace.
Do. , 13.05.10
20:00 Uhr Party am Bootshaus.
Loa.loa!
Wie war das möglich?
Sie hatte niemandem diese Nummer gegeben. Ja, noch kein einziges Mal mit dem Sony Ericsson telefoniert, seit sie es auf dem Tacoma Flughafen in Seattle gekauft hatte. Woher also hatte der Absender ihre Nummer? Wer war Loa.loa überhaupt?
Ohne eine Sekunde nachzudenken, schleuderte Julia das Handy weit von sich. Als es auf der Oberfläche des Spiegelsees auftraf, wunderte sie sich, dass sie kein Glas splittern hörte. Nein, der See verschluckte das Telefon einfach. Es sank geräuschlos auf den Grund.
Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte den Weg zurück zur Treppe. Sie war noch fast hundert Meter entfernt, als sie plötzlich hinter sich eine Stimme hörte.
»Du hast es wohl immer eilig, oder?«
Erschrocken fuhr sie herum.
Eine dunkle Gestalt löste sich aus den Schatten. »Was tust du hier draußen?«
Ihr Herz begann zu hämmern.
»Ich? Nichts! Ich …«
»Hast du eben etwas ins Wasser geworfen?«
»Nein, ich hab nur …«
»Egal. Spielt ja auch keine Rolle!«
Die Gestalt kam näher. Julia versuchte vergeblich im Dunkeln das Gesicht zu erkennen. Eine Hand berührte ihre Schulter. Sie zuckte zusammen und biss sich auf die Lippen, um nicht vor Angst loszuschreien.
Dann erklang ein leises Lachen in der Dunkelheit. »He, keine Sorge. Ich bin Chris. Christopher Bishop. Ich wohne mit deinem Bruder in Apartment 113. Du bist vor wenigen Minuten an mir vorbeigestürmt, als hättest du einen Geist gesehen.«
Julia brachte keinen Ton heraus. Ihre Kehle war trocken und sie schluckte krampfhaft.
»Ich habe mitbekommen, wie du das Gebäude verlassen hast, und bin dir vorsichtshalber gefolgt«, fuhr Chris fort. »Hier draußen kann
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