Das Spiel
Julia, wie Alex mit der Post die Treppen hoch auf das Podium stieg, wo die Dozenten ihre Plätze hatten, und zum Mikrofon ging. Julia fand dieses Ritual ein bisschen albern, sie hatte geglaubt, dass es für die Studenten Postfächer gab. Aber die Postverteilung nach dem Abendessen war eine der heiligen Institutionen des Grace – man hatte es schon immer so gemacht und keiner fragte mehr nach Sinn und Unsinn.
Zögernd stocherte sie mit der Gabel in den Pfannkuchen und verzog angewidert das Gesicht. Sie brachte sowieso kaum etwas herunter und dieses Zeug würde endgültig ihren Magen verkleben. Immer wieder musste sie an Chris denken, an das, was gestern zwischen ihnen passiert war. Die Erinnerung daran, ihn geküsst zu haben, trieb ihr die Schmetterlinge in den Bauch. Doch nach diesem Kuss hatte sich alles geändert – und sie wusste einfach nicht damit umzugehen.
Sie hatte die Geschichte um Loa.loa Chris tatsächlich im Starbucks erzählt.
Chris war ein guter Zuhörer. Er hatte wenige Vermutungen angestellt und sich auch nicht zu der Sache mit Katie geäußert. Doch sein Abschied von Julia gegen zehn Uhr war mehr als nachdenklich ausgefallen – fast schon geistesabwesend. Er hatte sie flüchtig auf die Stirn geküsst, und daher fragte sich Julia heute immer wieder, ob sie richtig gehandelt hatte, ihn ins Vertrauen zu ziehen.
Nach und nach rief Alex die Namen auf.
»Wenn ich Post bekomme, melde ich mich erst gar nicht«, sagte Benjamin mürrisch. Er schien noch immer schlecht gelaunt wegen seiner Kamera zu sein. »Sind doch eh nur schlechte Nachrichten und Rechnungen.«
»Ich bekomme gerne Briefe«, erwiderte Rose. »Das ist wie Geschenke auspacken, findet ihr nicht?«
Rose war eine der wenigen, die regelmäßig Briefe erhielt.
»Farley, Fredos, Federman. Finder.« Alex stockte.
»Hey!« Benjamin zog eine Augenbraue hoch. »Alex sieht aus, als hätte er ein Gespenst gesehen.«
»Na ja«, meinte Rose, »Tote bekommen schließlich nicht jeden Tag Post.«
Julias Blick ging zum Podium. Alex starrte noch immer wortlos auf den Umschlag – und es vergingen einige Sekunden, bis er ihn zurück in die Kiste legte und den nächsten Namen aufrief.
»Frost.«
Julia rührte sich nicht.
»He.« Benjamin stieß sie in die Seite. »Du bist gemeint.«
»Ich?«
»Julia und Robert Frost!«, wiederholte Alex.
Post? Damit hatte sie nicht gerechnet.
»Was ist los, Julia?«, rief Alex in ihre Richtung. »Soll ich eure Karte laut vorlesen oder holst du sie?«
»Oder noch besser«, rief ein hochgewachsener Student mit Rastalocken, »häng sie doch ans Schwarze Brett!«
Unter dem Gelächter beeilte Julia sich nach vorne zu kommen, wo sie die Karte entgegennahm. Ein flüchtiger Blick darauf zeigte ihr, dass sie in London abgeschickt worden war.
Sie drehte sie um und las.
Viele Grüße von Mum und Dad.
Das war der ganze Text.
Gleichgültig schob sie die Karte in die hintere Tasche ihrer Jeans. Im Umdrehen fiel ihr Blick auf den Postwagen und den braunen Umschlag, der ganz oben lag.
Angela Finder.
Grace College
P.O. Box 10
Grace Valley
British Columbia.
Erst dann fiel ihr Blick auf den Absender. Und als sie sah, von wem der Brief war, glitt ihr vor Schreck die Postkarte aus der Hand.
Der Tagesspiegel.
Askanischer Platz 3
10963 Berlin
Deutschland
*
Mitten in der Nacht schreckte Julia aus dem Schlaf hoch. Die Digitaluhr auf dem Nachttisch zeigte 4:22 Uhr. Ihr fiel sofort wieder die Postkarte ein. Viele Grüße von Mum und Dad.
Sie hatte sie Robert nicht gezeigt.
Ebenso wenig hatte sie ihm von dem braunen Umschlag erzählt. Allein, dass eine Tote noch immer Post erhielt, war schon gruselig. Doch wenn sie an den Inhalt dachte, dann überfiel sie die Panik.
Der Berliner Tagesspiegel.
Was hatte Angela ausgerechnet mit dieser Zeitung zu tun?
Und wo, verdammt noch mal, war der Umschlag jetzt?
Plötzlich fiel ihr etwas ein und in der gleichen Sekunde saß sie aufrecht im Bett. Die Polizei hatte sämtliche Sachen von Angela beschlagnahmt! Was hieße, dass auch der Umschlag ihnen zugehen würde, dafür würde das College-Sekretariat schon sorgen.
Mit einem Satz war sie aus dem Bett.
Hatte Alex den Umschlag zurück in die Verwaltung gebracht? Doch die Büros wurden um siebzehn Uhr geschlossen. Ab diesem Zeitpunkt waren die Betreuer für Fragen und Probleme der Studenten zuständig. War es dann nicht wahrscheinlich, dass Alex den Umschlag in seinem Büro aufbewahrte? Und ihn erst am nächsten Morgen abgab?
Sie
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