Das Spiel
zögerte, bevor sie in Jeans und Pulli schlüpfte. Reagierte sie gerade über? Vielleicht war das Ganze doch nur ein Zufall? Wie auch immer, sie musste auf Nummer sicher gehen.
Im nächsten Moment schlich Julia sich bereits aus dem Apartment, allerdings nicht, ohne die Taschenlampe mitzunehmen, die im Vorraum rechts an der Wand hing. Im Grace musste man jederzeit mit Stromausfall rechnen, auch wenn Julia das persönlich nur an ihrem ersten Abend erlebt hatte.
Das Büro der Betreuer befand sich im ersten Stock des Nordflügels, im gleichen Flur wie die Apartments der Jungs. Als Julia die Treppe nach unten lief, lag über dem Gebäudetrakt die gewohnte nächtliche Stille. Daher hatte Julia selbst auf Strümpfen noch das Gefühl, ihre Schritte bis in den letzten Winkel des Gebäudes zu hören.
Schließlich gelangte sie an die braune Holztür, auf der in großen Lettern stand: Student Counselor. Sprechstunde von 13:00-14:00 und 18:00-20:00 Uhr.
Neben der Tür befand sich ein großes Sichtfenster, durch das man sehen konnte, ob jemand im Büro war. Alles schien dunkel zu sein, doch dann erkannte Julia, dass im hinteren Teil des Büros ein Bildschirm flackerte. Im ersten Moment dachte sie, Alex oder Isabel hätten vergessen, den Computer auszuschalten, bis sie eine Bewegung davor wahrnahm.
Verdammt, da saß jemand! Morgens um halb fünf! Was hatte das zu bedeuten?
Einen Augenblick lang stand Julia unschlüssig im Flur. Sie musste einfach in dieses Büro und diesen Umschlag holen.
Julia wollte sich gerade ins Treppenhaus zurückziehen, um abzuwarten, bis die Luft rein war, als sie Schritte hörte, die sich vom oberen Stockwerk aus näherten.
Und nun?
Sie hatte definitiv keine Lust auf Erklärungen, was sie mitten in der Nacht auf dem Stockwerk der Jungs trieb.
Toilette!
Das war die Lösung. Genau gegenüber dem Büro befanden sich Toiletten. Im nächsten Moment tastete sie sich im Dunkeln zu einer der Türen, öffnete sie und verschwand in der Sekunde dahinter, als die Schritte den oberen Treppenabsatz erreichten.
Sie wich einige Schritte zurück und stieß gegen etwas. Für eine Sekunde knipste sie die Taschenlampe an, um sich zu orientieren.
Na klar, sie war in der Männertoilette gelandet. Bei dem Geruch hier hätte sie es sich gleich denken können.
Draußen klangen die Schritte nun ganz nahe. Jemand stand direkt vor der Tür. Julia drehte sich der Magen um. Die Männer von der Security checkten die Flure seit der Sache mit Angela regelmäßig. Ein pissender Sicherheitsbeamter direkt vor ihren Augen – das fehlte gerade noch.
Ihr Herz pochte laut, das ganze College musste das hören.
Aber nichts passierte. Alles blieb still.
Schließlich trieb die Neugierde sie zurück an die Tür.
Wieder Schritte – eins, zwei, drei.
Stopp.
Stimmen.
Eine, gedämpft, aber eindeutig männlich, fragte: »Was treibst du dich hier herum? Es ist mitten in der Nacht! Du hast hier nichts zu suchen.«
Die Antwort konnte Julia nicht verstehen.
»Ach wirklich?« Die Antwort klang sarkastisch.
Wieder ein undeutliches Murmeln, es klang irgendwie erbärmlich, ja weinerlich.
Dann wurden die Stimmen leiser. Stühle, die gerückt wurden. Etwas fiel zu Boden. Schritte im Flur, auf der Treppe. Erst als schließlich eine Tür zuklappte, senkte sich Stille über das Stockwerk.
*
Julia wartete noch fünf Minuten, dann öffnete sie leise die Tür. Sie musste endlich raus hier, der Geruch nach Urin war nur zu ertragen, indem sie die Luft anhielt.
Vorsichtig tastete sie sich in den Flur. Sie spürte sofort, dass niemand mehr hier war, und fühlte sich sicher genug, um die Taschenlampe anzuknipsen.
Einen Moment später stellte sie überrascht fest, dass die Tür zum Büro von Alex und Isabel offen stand. Es war leer.
War das jetzt Glück oder Schicksal? Egal. Sie hatte keine Zeit, lange darüber nachzugrübeln. Es gab nun einmal Momente im Leben, da sollte man das Denken vollständig einstellen.
Sie blickte noch einmal zum Treppenhaus. Alles ruhig. Keine Spur mehr vom Sicherheitsdienst. Okay, das hier würde nur Sekunden dauern.
Sie betrat das Büro. Wo würde Alex den Umschlag hingelegt haben?
Rechts an der Wand standen zwei Schreibtische. Julia ging um sie herum zu einem Regalfach mit Aktenordnern, die sorgfältig beschriftet waren. Darunter ein Fach mit Kisten. In der ersten nagelneue Werbeprospekte des Colleges. Daneben ein Stapel des Vorlesungsverzeichnisses, das man ihnen zu Beginn des Studienjahres ausgehändigt
Weitere Kostenlose Bücher