Das Spiel
hatte.
Dann fiel ihr eine rote Plastikkiste ins Auge, auf der das rot-blaue Emblem der kanadischen Post zu erkennen war: Post Canada.
Rasch zog sie die Kiste aus dem Regal und durchwühlte die Briefe und Umschläge. Nichts. Nichts. Nichts.
Mit der Taschenlampe, die im Grunde nicht mehr Licht spendete als ein Glühwürmchen, leuchtete sie einmal durch den Raum. Von ihren früheren Besuchen wusste sie, dass Isabel am linken Schreibtisch arbeitete. Dort stand auch ein Foto von ihr, auf dem sie in der Schwimmhalle des Colleges zu sehen war. Sie hielt einen Pokal in der Hand. Der andere Tisch gehörte Alex. Bei Isabel stapelten sich die Papiere und Verzeichnisse unordentlich aufeinander, aber hier war alles picobello aufgeräumt. Typisch Alex. Und Julias Glück, denn das machte ihr die Suche leichter.
Nacheinander öffnete sie die Schubladen. Schreibutensilien, Papier, Formulare, Kursunterlagen, eine Mappe mit Informationen über Yale, und in der letzten lag er endlich. Der große braune Umschlag.
Angela Finder
Grace College
P.O. Box 10,
Grace Valley
British Columbia.
Mit einem Handgriff hatte sie den Umschlag unter ihren Pulli geschoben. Das Papier fühlte sich kalt an und knisterte leise, als sie sich bewegte. Sie schob die Schreibtischschublade zu. Verfluchter Mist! Sie hatte sich verklemmt – egal! Julia hatte keine Lust, sich jetzt noch erwischen zu lassen.
Sie knipste die Taschenlampe aus, huschte aus dem Büro und war Sekunden später sicher im zweiten Stockwerk angelangt. Erst als sie die Tür ihres Zimmers leise hinter sich zuzog, hörte sie aus der Ferne das heisere Bellen eines Hundes.
Kapitel 24
Robert [G] wie Grace
Robert war kalt, eisig kalt. In seinem Rücken fühlte er rauen Stoff, so etwas wie ein Teppich. Und es war eng, fürchterlich eng um ihn herum. Hände und Arme waren mit dickem Klebeband umwickelt, doch je mehr Kraft er aufwendete, um sich zu befreien, desto stärker schnürte es ihm das Blut ab. Verzweifelt streckte er die Hände aus und stieß gegen Metall. Doch am schlimmsten, am allerschlimmsten war der Geruch. Unangenehm, penetrant, sodass er sich bemühte, nur durch den Mund zu atmen. Ein überwältigender Würgereiz packte ihn und er japste nach Luft. Doch was er in seine Lungen bekam, war keine Luft, sondern etwas anderes. Er röchelte, hustete.
Benzin, schoss es ihm durch den Kopf, ich atme Benzin.
Robert begriff. Er befand sich im Kofferraum des alten Mercedes, der einmal Dad gehört hatte.
Es war das heisere Bellen eines Hundes direkt unter seinem Fenster, das Robert aus dem Albtraum riss.
Schweißgebadet wachte er auf und blickte sich um. Er war in seinem Zimmer im Nordflügel des Colleges, lag auf dem Bett und noch immer war Nacht.
Hatte er wieder im Schlaf geschrien? Als hätte er die Frage laut gestellt, steckte Chris den Kopf zur Tür herein und protestierte verschlafen. »Mann, es ist gerade mal fünf Uhr und du brüllst wie am Spieß. Kannst du das nicht endlich abstellen?«
»Sorry«, murmelte Robert in der Hoffnung, Chris würde gehen, doch Chris blieb in der Tür stehen und seine Stimme zeigte einen Anflug von Besorgnis, als er fragte: »Soll ich Julia holen?«
»Ich sage doch, es ist alles okay.« Konnte Chris nicht abhauen? Robert mochte ihn nicht und die Abneigung war noch gewachsen, seitdem er ihn immer häufiger zusammen mit Julia traf.
»Hey, ich hab’s nur gut gemeint, ja?« Chris wandte sich um und schloss die Tür.
Chris war nicht der Typ, der etwas gut meinte, da war sich Robert sicher. Zu neunundneunzig Prozent, aber ein Restrisiko gab es immer.
Robert rappelte sich hoch und setzte sich aufs Fensterbrett. Mittlerweile war er hellwach.
In der Dunkelheit konnte man den See nur als Umriss erkennen, als schwarze Scheibe. Als er in dieser ersten Nacht zu Julia gesagt hatte, dieser Ort sei böse, war es nur ein Gefühl gewesen. Doch nun fand er von Tag zu Tag mehr Beweise. Zurzeit beschäftigte er sich damit, eine detailgetreue Karte des Tals zu erstellen. Was nicht einfach war, zumal es keine Vorlagen gab. Er konnte keine vernünftige Landkarte finden, weder in der Bibliothek noch im Geografie-Department, wo er nachgefragt hatte. Und der Plan, den man auf den Bildschirmen in der Empfangshalle einsehen konnte, war in jeder Hinsicht eine Katastrophe. Auf ihm stimmte nichts, aber auch gar nichts. Das hätte Robert schon als Dreijähriger besser gekonnt.
Der Lake Mirror war nahezu kreisförmig. Das allein war nicht ungewöhnlich. Solche kreisrunden
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