Das Spiel
»Aber ich hätte nicht geahnt, dass ich dich hier draußen im strömenden Regen finde.«
Anstelle einer Antwort hob Julia die Achseln.
Chris’ Miene verfinsterte sich. »Was ist denn los?«, fragte er. »Stimmt etwas nicht?«
Julia schüttelte den Kopf. Wie sollte sie bloß erklären, was in der Zwischenzeit geschehen war?
»Komisch, vor einer Stunde hätte ich wetten können, du magst mich.«
Julia spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Ihr Blick schweifte über den Campus zur Uferpromenade, wo er ausgerechnet an einem Liebespärchen hängen blieb, das herumknutschte. Der Regen schien sie nicht weiter zu kümmern.
»Kennst du das Gefühl«, sagte sie unvermittelt, »wenn eine unsichtbare Last auf deinen Schultern zu liegen scheint, wenn die Luft schwerer wiegt, als man es sich vorstellen kann und …«
»Du meinst, wenn man sich selbst sieht, allein auf der riesigen Erdkugel stehend, während man in den Abgrund schaut? Oh ja, das Gefühl kenne ich.« Er trat einen Schritt näher. Sein herber Tabakgeruch stieg ihr in die Nase. »Aber dann findet man einen zweiten Menschen, der ebenso einsam ist, und schon verschwinden alle bösen Gedanken.«
Böse?
Nein, das Wort hatte Julia nicht gemeint. Aber sie widersprach nicht, denn jetzt zog er sie sanft an sich. Es schien ihn nicht zu kümmern, dass Julias Gesicht und Kleidung ganz nass waren.
Die ersten zwei Knöpfe seines Hemdes standen offen. Sie konnte die nackte Haut sehen, und obwohl sich ihr Körper unwillkürlich verkrampfte, drängte etwas sie, ihre Wange genau an diese Stelle zu legen. Und Julia kämpfte mit sich, ob sie diesem Gefühl nachgeben sollte.
Sie war nicht verliebt in Chris, nicht so, wie sie es in Kristian gewesen war. Nein, die Sache mit Chris war vollkommen anders. Ein einziges Hin und Her. Fremd. Ungewohnt. Beängstigend. Wie alles hier im Tal.
Dabei sehnte sie sich so nach Ruhe und Geborgenheit. Vielleicht ließ sie es deswegen auch einfach geschehen, als er nun ihren Kopf in beide Hände nahm und sie zwang, ihn anzusehen.
Mum hatte einmal behauptet, dass man durch die Augen des Mannes, den man liebt, in sein Innerstes schauen konnte.
Das waren ihre Worte gewesen, als Julia vor der Nacht mit Kristian fragte, wie man sicher wissen könne, ob man jemanden liebt.
Du schaust in seine Augen und weißt es.
Das klang ziemlich einfach.
Julia schaute genau jetzt in Chris’ Augen.
Dieses schimmernde Grau, das manchmal die Farbe zu wechseln schien, als spiegelten sie tatsächlich das, was in seinem Kopf vorging, nach außen.
Und dann küsste er sie.
Lange.
Intensiv.
Ihre Emotionen waren bis zu diesem Moment auf ein Minimum zusammengeschrumpft gewesen, ja, in ihrem Inneren war es kalt, nein, sie war ein einziger Eisblock, wie der Gletscher, der über dem Ghost schwebte. Doch sie spürte, dass das hier etwas sein könnte, was das Eis in ihrem Innern schneller schmelzen lassen würde als die Polkappen.
Und dann war es vorbei und sie standen eine Weile einfach da, ineinander verschlungen. Noch immer fiel der Regen, aber er war nicht länger unangenehm, sondern erschien Julia warm und weich, als wolle er sie beide umhüllen.
Es war Chris, der das Schweigen brach. »Und jetzt verrätst du mir, was los ist.«
Julia holte tief Luft. »Hast du schon einmal etwas von Loa.loa gehört?«, fragte sie.
Zögerte er für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er seine nächste Frage stellte? »Was soll das sein?«
»Ein Nickname«, erklärte Julia.
»Und weißt du auch den richtigen Namen?«
»Angela Finder.«
»Ich verstehe gar nichts«, meinte Chris.
»Gilt unser Date im Starbucks noch?«, fragte Julia und fasste nach seiner Hand.
Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Sie würde ihm die ganze Geschichte erzählen. Nein, nicht die ganze Geschichte, nur den Teil, der mit der mysteriösen SMS begonnen hatte.
Kapitel 23
Am nächsten Tag gab es zum Abendessen schon wieder Pfannkuchen mit Ahornsirup. Langsam konnte Julia es nicht mehr sehen. Sie saß mit Rose, Katie, David und Benjamin an einem Tisch und hörte sich Benjamins Gejammer an, dass jemand seine Kamera demoliert hatte.
»Ich habe sie nur einen Moment liegen lassen, als ich auf die Toilette bin«, wiederholte er wieder und wieder.
»Ach ja?«, bemerkte Katie spöttisch. »Ich dachte immer, du schläfst sogar mit ihr in einem Bett.«
Rose kicherte und David grinste.
Alle schienen froh zu sein, über irgendetwas reden zu können, das nicht wirklich wichtig war.
Von weitem sah
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