Das Spiel
verschätzt, als würde ihr Boot zermalmt werden wie Vogelknochen zwischen den Kiefern eines Wolfs, tauchten die Ruder energisch ins dunkle Wasser, und sie glitten am Muschelbewuchs eines Felsens vorbei, so dicht, dass Briony schnell die Hand wegziehen musste, um ihre Finger zu retten. Der hölzerne Rumpf schrappte ganz leicht den Fels entlang, sodass ein kurzes Zittern durch das Boot lief, dann waren sie vorbei und in der vergleichsweise ruhigen Einfahrt angelangt.
»Du hast es geschafft!«
Ena nickte bemüht gelassen, während sie sie durch die Einfahrt zu dem Schwimmsteg ruderte, der an der Felswand festgekettet war. Wenige Meter entfernt, auf der Seeseite, wüteten die Wellen wie ein erzürntes Raubtier, dem die Beute entgangen war, aber hier ging nur eine sanfte Dünung. Als das Boot festgemacht war, schafften sie es irgendwie, Shasos schwere, schlaffe Gestalt die kurze Leiter hinauf und auf den salzverkrusteten Steg zu hieven.
Ena sank neben Shaso in die Knie. »Ich muss mich ausruhen ... nur ein bisschen ...«, sagte sie mit hängendem Kopf.
Briony dachte, welche Strapaze es für das Skimmermädchen gewesen sein musste, so viele Stunden zu rudern, um sie von der Burg hierher in diesen sicheren kleinen Hafen zu bringen. »Ich war roh und undankbar«, sagte sie zu Ena. »Bitte verzeih mir. Ohne deine Hilfe wären Shaso und ich längst tot.«
Ena sagte nichts, nickte aber. Möglich, dass sie in der Tiefe ihrer Kapuze leise lächelte, aber es war so dunkel, dass Briony es nicht genau erkennen konnte.
»Während ihr beide euch ausruht, gehe ich hinauf ins Jagdhaus und sehe nach, was ich finden kann. Bleibt hier.« Briony breitete ihren Mantel über Shaso und erklomm dann die Stufen, die in den Fels gehauen waren. Sie waren zwar schlüpfrig von Gischt und Nachttau, aber breit und so vertraut, dass Briony sie im Schlaf hätte hinaufsteigen können. Zum ersten Mal schöpfte sie wieder Hoffnung. Sie kannte diesen Ort gut und wusste um seine Annehmlichkeiten. Sie hatte sich schon damit abgefunden gehabt, die erste Nacht ihrer Flucht in einer Höhle am Strand von Marrinswalk oder im Gesträuch auf der Leeseite einer Felsklippe zu verbringen — hier würde sie immerhin ein Bett vorfinden.
Das Jagdhaus auf dem M'Helansfels war für eine von Brionys Vorfahrinnen, Ealga Flaxenhaar, erbaut worden — eine Liebesgabe ihres Gatten, König Aduan, sagten die einen, ein Gefängnis, meinten andere. Wie auch immer, das war nur noch ein verblassendes Stück Familienmythos, da die Hauptpersonen schon über hundert Jahre tot waren. In Brionys Kindheit hatten die Eddons jeden Sommer mindestens ein Tagzehnt auf der Insel verbracht, aber manchmal waren sie auch wesentlich länger geblieben, weil ihr Vater Olin die Ruhe und Abgeschiedenheit so geschätzt hatte. Außerdem hatte es ihm gefallen, dass er hier einen wesentlich kleineren Hofstaat um sich hatte, oft nur Avin Brone als einzigen Ratgeber, ein Dutzend Bedienstete und ein unumgängliches Minimum an Garden, und dass er nur wenige Besucher zu empfangen brauchte. Als Kinder hatten Briony und Barrick (wie zweifellos viele andere Königskinder vor ihnen) einen schmalen, schwer zu begehenden Pfad hinunter zu einer Strandwiese entdeckt und es genossen, ein Plätzchen für sich allein zu haben, wo sie ganze Nachmittage ohne Wachen und sonstige Erwachsene zubringen konnten. Für Kinder, die praktisch immer von Bediensteten, Soldaten und Höflingen umgeben waren, war die Strandwiese ein Paradies gewesen und das Sommerjagdhaus ein Ort, mit dem sich fast nur schöne Erlebnisse verbanden.
Jetzt fand Briony es sehr seltsam, bei Nacht allein die Eingangstreppe hinaufzugehen. Das vertraute Haus, aus dessen sämtlichen Fenstern warmes Licht hätte strahlen müssen, lag in so völligem Dunkel, dass sie kaum die Umrisse vor dem Himmel ausmachen konnte. Wie schon so oft in diesem Jahr und vor allem in den letzten Wochen war wieder ein geliebter Teil ihres Lebens aus den Fugen geraten, ein weiteres Stück Erinnerung von den Feinden der Eddons gestohlen und entstellt worden.
Sie sah wieder Hendon Tollys spöttisches Gesicht vor sich, seine Belustigung angesichts ihrer Hilflosigkeit, als er ihr erklärte, wie er den Thron an sich zu reißen gedachte, und kalte Wut packte sie.
Du bist vielleicht nicht der einzig Schuldige an dem, was meiner Familie widerfahren ist, du elender Gronefeld-Schurke, aber du bist derjenige, den ich kenne und dessen ich habhaft werden kann.
In diesem Moment fühlte sie
Weitere Kostenlose Bücher