Das Spiel des Schicksals
weil sie die Gelegenheit zu einer Party verpasst hatte, musste sie ja nicht den ganzen Abend lang zu Hause hocken.
Ohne es sich bewusst zu machen, hatte sie in ihrem Inneren eine Karte ihres Stadtteils entworfen, einschließlich der Gezeiten und Ströme, die die Straßen durchzogen. Als sich Cat dem Eingang zu einem Striplokal am Ende der Straße näherte, registrierte sie automatisch, dass es Samstag war, weil die Blondine an der Tür saß und nicht das schwarze Mädchen, das freitags Dienst hatte. Das Mädchen nickte kurz grüßend mit dem Kopf, als Cat vorbeiging. Der Heizlüfter neben ihren nackten Beinen blies einen Schwall warme Luft über das Pflaster. Cat erschauerte und kauerte sich tiefer in ihren Mantel.
Der Mantel gehörte Bel. Es war ein pelzbesetzter Parka, der seit ihrem Umzug die meiste Zeit über der Rückenlehne eines Küchenstuhls gehangen hatte. Er war wärmer als die Jeansjacke, die Cat normalerweise trug, und sie war froh, dass sie ihn angezogen hatte. Es nieselte leicht. Sie steckte ihre Hände tief in die Taschen und fühlte in der linken etwas Scharfkantiges. Es war eine Karte aus dickem Papier mit Goldrand und einem Bild, das sie kannte. Immerhin keine Schwerter und kein Blut, sondern
der fröhliche Narr, der zwischen Licht und Dunkel balancierte, zwischen dem weiten Himmel und dem gähnenden Abgrund.
Was zum …? Cat starrte die Karte einen Moment lang sprachlos an, ehe sie sich erinnerte, dass sie den Parka auch vor zwei Wochen getragen hatte, als sie mitten in die Runde der Kartenspieler geplatzt war. Der König der Dingsdas musste ihr die Karte auf dem Weg nach draußen in die Tasche geschmuggelt haben. Jetzt sah sie, dass auf der Rückseite etwas geschrieben stand.
Cat ging zu einem hell erleuchteten Schaufenster, um die Karte genauer zu betrachten. Die Rückseite war weiß, und darauf war in fetter schwarzer Schrift gedruckt
Das ARKANUM
Temple House, Mercury Square
EINTRITT FÜR EINE PERSON
Wirf die Münze, wende die Karte.
Worum willst DU spielen?
Außer der Adresse und dem kleinen Rad mit den vier Speichen befand sich nichts auf der Karte, kein Datum, keine Telefonnummer, keine Bitte um Rückmeldung und auch nicht, was beworben oder wozu eingeladen wurde. War das Arkanum ein Spiel oder eine Gesellschaft? Und was sollte der Spruch über »eine Münze werfen«?
Instinktiv tastete Cat wieder in der Tasche des Parkas.
Und tatsächlich: Gemeinsam mit der Karte war ihr auch eine Münze zugesteckt worden. Sie sah eher aus wie eine Spielmarke als wie eine Geldmünze: ohne jegliches Motiv, etwa so groß wie ein Penny, aber schwerer und aus einem schimmernden schwarzen Metall hergestellt.
»Hamse mal Feuer, Miss?«
Cat erschrak. Sie war zu versunken in ihre Entdeckung gewesen, um auf ihre Umgebung zu achten. Ein älterer Junge, ein Asiate, dessen Gesicht halb von einer Baseballkappe verdeckt wurde, beugte sich erwartungsvoll zu ihr hin.
»Nein, tut mir leid«, sagte sie und wich ihm aus. In dieser Gegend gab es eine Menge junger Männer mit spitzen, ungesunden Gesichtern, die an Ecken oder in Hauseingängen herumlungerten und unter der Hand irgendwelche verstohlenen Geschäfte abwickelten. Bislang war es ihr immer gelungen, ihnen aus dem Weg zu gehen.
»Hamse mal Kleingeld für’n Bus?«
»Nein.«
Cat ging schneller, dorthin, wo viele Leute waren, und er schickte sich an, ihr zu folgen. Sie dachte an den Geschäftsmann, der durch die dunkle Gasse geflohen war, an die entschlossenen Gesichter seiner Verfolger, doch sie schüttelte den Gedanken gleich wieder ab. Die ganze Sache war ein Missverständnis gewesen. Sie hatte nichts zu befürchten, hier gab es überall Lampen, Wärme und Menschen … Trotzdem beschleunigte sie ihre Schritte, entfernte sich von ihrem ursprünglichen Weg. Sie schaute sich um, ob er immer noch hinter ihr war. Ja. Sie bog
um eine Ecke, diesmal in eine weniger belebte Straße, und schaute sich wieder um.
Er war stehen geblieben und trat nun an die Bordsteinkante. Die Scheinwerfer eines Taxis glitten vorbei, und einen Moment fingen sie in ihrem Lichtstrahl den Mann ein: dunkles Gesicht und glitzernde Augen. Dann zog er seine Kappe wieder tiefer, drehte sich um und verschwand.
Beschämt merkte Cat, dass ihr Atem schnell ging und ihre Handflächen klamm waren. Sie war wohl weiter gelaufen, als sie gedacht hatte, denn sie hatte sich von den verschlungenen Straßen in und um Soho entfernt und stand auf einem der pompösen alten Plätze im Herzen der
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