Das Spiel des Schicksals
Stadt. Um diese Jahreszeit waren die Baumkronen in vielen öffentlichen Gärten mit Lichterketten geschmückt, aber hier wurden die schwankenden Schatten hinter dem Zaun, der den kleinen Park einfriedete, nur von dem gelblichen Schimmer der Straßenlaternen erleuchtet. Es sah so aus, als ob viele der Wohnhäuser in Büros umgewandelt worden waren, die zu dieser Stunde leer standen. Fast alle Gebäude waren dunkel und still. Nur in einem Haus ein Stück zu ihrer Linken strahlte warmes Licht durch die Fenster, und gedämpftes Lachen und Wortfetzen drangen hinaus in die kalte Luft.
Cat ging näher an die Pfützen aus Licht heran, als ob ihr allein dadurch wärmer werden würde. Sie sah, dass die Eingangstür einladend offen stand. An der Seite befand sich eine schlichte, elegante Bronzeplatte. Temple House stand darauf.
Sie lachte kurz auf und tastete nach der Karte in ihrer Tasche. Das Arkanum, Temple House , Mercury Square. Plötzlich kam Wind auf; in den Nieselregen mischten sich Schneeflocken, die – vom Wind getrieben – auf ihrem Gesicht stachen. Was für ein günstiger Zeitpunkt! Den Geräuschen nach zu urteilen, war im Inneren des Hauses eine Party im Gange. Cat machte es nichts aus, sich unter lauter unbekannte Menschen zu mischen; unauffällig zu bleiben, war ihre besondere Stärke. Warum eigentlich nicht? Vielleicht gab es da auch etwas zu essen; sie konnte warten, bis sich das Wetter beruhigt hatte … und wenn nicht, konnte sie sicher einen herrenlosen Schirm stibitzen.
Die Tür führte in eine Eingangshalle mit schwarzen und weißen Marmorplatten auf dem Boden, die wie ein Schachbrett aussahen. Direkt hinter der Tür saß ein Mann an einem Schreibtisch, während der Rest der Halle hinter einem schweren Vorhang aus Goldbrokat verborgen war. Die Geräusche von der anderen Seite des Vorhangs klangen merkwürdig gedämpft, obwohl Cat glaubte, Lachen und das Klirren von Gläsern hören zu können.
Der Türsteher trug eine schwarz-goldene Livree, wie ein Portier in einem vornehmen Hotel. Er hatte ein verwelktes Gesicht und müde Augen. »Sie kommen gerade rechtzeitig«, sagte er zu Cat. »Darf ich Ihre Karte sehen?«
Cat zog die Einladung hervor und erwartete halb, dass er ihr umgehend die Tür weisen würde. Es war ja möglich, dass sie irgendetwas falsch verstanden hatte, und außerdem war sie nicht gerade für eine Party herausgeputzt.
Das Haar hing in feuchten Strähnen um ihr Gesicht, und unter dem Parka trug sie einen alten dunkelblauen Pullover mit V-Ausschnitt und Jeans. Wenn hier Abendkleidung verlangt war, war sie aufgeschmissen.
Sie wartete, während der Mann die Karte betrachtete und danach ihr Gesicht. »Möchten Sie das Arkanum betreten und am Spiel teilnehmen?«, fragte er schließlich.
»Ich muss doch keinen Mitgliedsbeitrag bezahlen, oder?«
»Jeder kann mitmachen«, sagte er mit ernster Miene, »jeder, der die Einladung akzeptiert.«
»Also gut.«
»Darf ich um die Münze bitten?«
Sie reichte ihm die Spielmarke aus schwarzem Metall, die der Mann mit einer geschickten Bewegung in die Luft warf. »Sie wird später noch gebraucht«, sagte er. Trotz dieser Behauptung steckte er die Münze in seine Rocktasche. Dann griff er nach Stempel und Stempelkissen. »Darf ich?«
Cat streckte ihre rechte Hand aus, und er drehte sie um, drückte ihr den Stempel auf die Handfläche. Die Tinte brannte ein bisschen auf ihrer Haut, aber das Gefühl verging so schnell, dass sie meinte, sie hätte es sich nur eingebildet. Auf ihrer Handfläche war nun die verschmierte schwarze Kontur eines Rades zu sehen.
»Cool. Kriege ich auch ein Plastikarmband?«
Er starrte sie an und verzog keine Miene.
»Willkommen im Spiel.«
Ehe sie ihre Meinung ändern konnte, ging Cat an dem Schreibtisch vorbei, schob den schweren Vorhang auseinander und trat hindurch. Das Gebäude war größer und prächtiger, als es von außen den Anschein gehabt hatte. Die Eingangshalle war so groß wie die eines Nobelhotels. Es wimmelte vor Menschen. Ein herrlich geschmiedeter Eisenkronleuchter erhellte den Raum. Eine Treppe am anderen Ende wand sich hinauf zu einer Galerie, und rechts und links der Treppe befanden sich zwei Türen in der Wand. Irgendwo spielte jemand Klavier, ein kompliziertes modernes Stück ohne rechte Melodie.
Wenn Bel hier gewesen wäre, hätte sie das Kinn gehoben, ihren Ausschnittsaum nach unten gezogen und wäre zu der größten und lebhaftesten Gruppe stolziert – natürlich mit einem Glas in der Hand.
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