Das Spiel ist aus, wenn wir es sagen
umsieht, als befürchte er, ich könnte mich von einem der Ränge stürzen.
Ich spreche den Text der Schauspieler mit– zum letzten Mal, außer vielleicht bei irgendwelchen Partys, wo ich vor anderen Theater-Freaks damit Eindruck schinden kann. Eine Stunde und zweiunddreißig Minuten nach Beginn der Vorstellung gehen Matthew und Sydney endlich aufeinander zu, und es passiert das, worauf die Zuschauer seit drei Akten gewartet haben: Er nimmt ihr Gesicht in die Hände, während sie sich graziös zurückneigt. Ihre Lippen nähern sich bebend und dann verschmelzen die beiden Liebenden. Eine Frau in einer der vorderen Reihen seufzt. Das tun wir alle angesichts dieses Kusses.
Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig, fünfundzwanzig… Was ist das denn? Endlos ziehen die Sekunden dahin, und Syd und Matthew umarmen sich immer noch, und zwar deutlich fester und intensiver, als es in der Regieanweisung steht. Sie küssen sich Ewigkeiten länger als bei den letzten Vorstellungen. In meiner Brust lodert eine kleine Flamme der Eifersucht auf. Sydney lässt es zu, dass Matthew sie so fest hält, dass sie sicher blaue Flecken bekommt.
Meine Finger gleiten an der ausgefransten Vorhangkordel entlang, es reizt mich, daran zu ziehen und die Vorstellung damit vorzeitig zu beenden. Das Theater ist so uralt, dass mir wahrscheinlich jeder glauben würde, wenn ich behaupte, dass es nur aus Zufall passiert wäre. Aber natürlich würde ein Steinbock-Mädchen wie ich so etwas nie tun.
Endlich lassen Sydney und Matthew widerstrebend voneinander ab und beginnen ihr Duett, in das gleich alle anderen einfallen werden. Die übrigen Schauspieler eilen auf dem Weg zu ihren Markierungen auf der Bühne an mir vorbei. Sydneys Brust hebt sich bei den hohen Tönen des Liedes, bis nur noch das Echo der Melodie in der Luft hängt, gefolgt von frenetischem Applaus. Benommen ziehe ich den Vorhang zu.
Während sich die Schauspieler verbeugen, flüchte ich nach draußen auf die Feuertreppe. Wenigstens regnet es nicht, was in Seattle im Frühling schon an ein kleines Wunder grenzt.
So hatte ich mir den Abschlussabend nicht vorgestellt. Und das nach der ganzen Mühe, die ich mir mit den Kostümen gegeben habe, nach den stundenlangen Schminkarbeiten, nach all den Nachmittagen, an denen ich Sydney geholfen habe, sich perfekt auf ihre Rolle vorzubereiten, und den drei Kuchen, die ich für die Party gebacken habe. Die Einzige, die heute einen langen Kuss von Matthew verdient hat, bin ich.
Ich lasse mich auf eine Stufe fallen, die sich durch meinen dünnen Seidenrock eiskalt anfühlt, und wechsle meinen ThisIsMe-Status von Vielversprechend auf Offen für Vorschläge. Außerdem poste ich: Ich glaube nicht an Karma.
Das Beste wird sein, wenn ich jetzt gehe und die blöde Party und meinen ersten freien Abend nach meinem Hausarrest einfach vergesse. Meine sogenannte beste Freundin erträgt es nicht, wenn sie mal ausnahmsweise nicht im Rampenlicht steht, das ist es. Dabei haben meine Challenges doch an ihrem strahlenden Glanz überhaupt nicht gekratzt. Kein anderes Mädchen hat zwei Blumensträuße bekommen. Waren sie von Matthew? Ist sie auch in ihn verliebt? Die Umarmung sah unglaublich echt aus … Aber sie könnte natürlich auch bloß gut gespielt gewesen sein. Mir schwirrt der Kopf. Könnten die beiden insgeheim ein Paar sein? Ist es wirklich möglich, dass mich meine Freundin, die sich in der fünften Klasse das Handgelenk verstaucht hat, um mich vor einem Idioten zu retten, der mich wegen meines Namens schikaniert hat, so hintergehen könnte? Aber dieser Kuss …
Die Tür schwingt auf. Kommt Sydney, um sich zu entschuldigen?
Es ist Tommy, der heftig blinzelt.
» Was machst du denn hier draußen? « , fragt er und setzt sich auf die Stufe über mir. Er riecht nach Kiefernnadeln.
Ich sehe zu ihm auf. » Ich brauch ein bisschen frische Luft. «
Er grinst. » Ja, Luft ist gut. «
» Musst du nicht die Bühnentruppe beaufsichtigen? «
» Nein, wir bauen erst morgen ab. «
» Ich sollte noch mal eine Erinnerung rausschicken, dass alle ihre Kostüme reinigen lassen. Nicht dass noch jemand stinkende Klamotten abgibt. «
» Was wäre dann? «
Ich stütze das Kinn auf meine Hand. » Vielleicht hänge ich ihnen die dreckigen Sachen dann zusammen mit einer Gasmaske an ihr Schließfach. «
Ja, in unserem Theaterstück kommen auch Gasmasken vor.
Tommy grinst. » Von einem netten Mädchen wie dir würde man solche fiesen Einfälle gar
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