Das Spiel seine Lebens
Mini-Kopfhörern, die unter Umgehung der Ohren direkt ins Großhirn eingestöpselt werden. Seine schwarzen Basketballstiefel lagen auf dem Schreibtisch, seine Baseball-Mütze hatte er nach unten gezogen wie einen Sombrero zur Siesta. Auf seinem Schoß lag ein Buch. Operation Shylock von Philip Roth.
»Gutes Buch«, sagte Myron.
Der Student zeigte keine Regung.
»Gutes Buch«, brüllte Myron.
Mit h örbarem Ploppen zog sein Gegenüber die Ohrhörer heraus. Er war rothaarig und blass. Als er die Mütze abnahm, kam eine wilde Afro-Frisur zum Vorschein. Wie bei Bernie aus Room 222.
»Was?«
»Gutes Buch, habe ich gesagt.«
»Haben Sie es gelesen?«
Myron nickte. »Ohne dabei die Lippen zu bewegen.«
Der Junge stand auf. Er war lang und schlaksig.
»Spielen Sie Basketball?«, fragte Myron.
»Yeah«, sagte der Student. »Hab gerade mein erstes Jahr hinter mir. Bin nicht oft eingesetzt worden.«
»Ich bin Myron Bolitar.«
Der Bursche sah ihn verst ändnislos an.
»Ich habe für Duke gespielt.«
Blinzel, Blinzel.
»O danke, nein, keine Autogramme.«
»Wann war das?«, fragte der Knabe.
»Ich habe vor zehn Jahren meinen Abschluss gemacht.«
» Oh «, antwortete der Junge, als würde das alles erklären. Myron überschlug es schnell im Kopf. Als Myron die Universitätsmeisterschaft gewonnen hatte, war der Kleine gerade sieben oder acht Jahre alt gewesen. Er fühlte sich plötzlich sehr alt.
»Wir haben damals noch auf Pfirsichkörbe gespielt.«
»Was?«
»Vergessen Sie's. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«
Der Bursche zuckte die Achseln. »Nur zu.«
»Wie oft arbeiten Sie hier in der Post?«
»In den Semesterferien fünf Tage die Woche, von neun bis f ünf.«
»Ist es immer so ruhig?«
»Ja, um diese Jahreszeit schon. Fast keine Studenten, also fast keine Post.«
»Sind Sie auch für das Sortieren der Post zuständig?«
»Klar.«
»Holen Sie auch Post ab?«
»Abholen?«
»Post, die auf dem Campus abgeschickt wird.«
»Ja, aber wir haben ja nur den Briefkasten am Haupteingang.«
»Das ist der einzige Briefkasten für die universitätsinterne Post?«
»Mhm.«
»Ist da in letzter Zeit viel gekommen?«
»Fast nichts. So drei, vier Briefe am Tag.«
»Kennen Sie Christian Steele?«
»Hab von ihm gehört«, sagte der Bursche. »Wer hat das nicht?«
»Er hat vor ein paar Tagen einen großen braunen Umschlag im Postfach gehabt. Es war kein Stempel drauf, er muss also auf dem Campus abgeschickt worden sein.«
»Ja, ich erinnere mich. Was ist damit?«
»Haben Sie gesehen, wer ihn eingeworfen hat?«
»Nein«, sagte der Bursche. »Aber das waren die einzigen Briefe, die ich an dem Tag hatte. «
Myron legte den Kopf schief. »Briefe?«
»Was?«
»Sie haben Briefe gesagt. Das waren die einzigen Briefe.«
»Ja. Zwei große Umschläge. Bis auf die Adresse genau gleich.«
»Wissen Sie noch, an wen der andere adressiert war?«
»Klar«, sagte der Bursche. » An Harrison Gordon. Er ist Dekan in der Verwaltung. «
19
Nancy Serat lie ß ihren Koffer auf den Boden fallen und drückte den Knopf am Anrufbeantworter. Quietschend spulte das Band zurück. Sie war übers Wochenende in Cancun gewesen, ein letzter Urlaub vor Beginn ihres Forschungsstipendiums an der Reston University, ihrer Alma Mater.
Die erste Nachricht war von ihrer Mutter.
»Ich will dich nicht im Urlaub stören, mein Schatz, aber ich dachte, dich interessiert vielleicht, dass Kathy Culvers Vater gestern gestorben ist. Er wurde bei einem Raubüberfall erstochen. Schrecklich. Na ja, ich dachte, du solltest das wissen. Ruf an, wenn du zurück bist. Dein Vater und ich wollen dich an deinem Geburtstag zum Essen einladen.«
Nancy bekam weiche Knie. Sie fiel in einen Sessel und bekam von den n ächsten beiden Nachrichten kaum etwas mit - eine von der Sprechstundenhilfe ihres Zahnarztes, die sie an den Termin für die Zahnsteinentfernung am Freitag erinnerte, und eine von einem Freund, der eine Party plante.
Adam Culver war tot. Unfassbar. Ein Raub überfall, hatte ihre Mutter gesagt. Nancy fragte sich, ob das wirklich nur Zufall war. Oder hatte es etwas mit seinem Besuch am... ?
Sie überschlug, an welchem Tag es gewesen war.
Kathys Vater war an seinem Todestag noch bei ihr gewesen.
Eine Stimme auf dem Anrufbeantworter holte sie zur ück in die Gegenwart.
»Hallo, Nancy. Hier ist Jessica Culver, Kathys Schwester. Wenn du nach Hause kommst, ruf mich doch bitte an. Ich muss so bald wie möglich mit dir reden. Ich bin bei meiner
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