Das Spiel
Jalousien zu urteilen war dieses Büro verlassen. Den einzigen Hinweis, daß jemand hier gewesen war, lieferte der handgeschriebene Zettel auf dem Rand des Konferenztisches.
Bitte gehen Sie ans Telefon.
Ein Pfeil am unteren Rand der Notiz wies nach rechts. Dort stand auf einem der offenen Aktenschränke ein Telefon.
Verwirrt hob Viv eine Braue. Warum sollte jemand ... ?
Das Telefon klingelte. Viv sprang zurück und stieß gegen die geschlossene Tür. Sie sah sich suchend in dem Zimmer um. Es war niemand sonst da. Das Telefon klingelte erneut.
Viv überflog noch einmal den Zettel, trat zögernd vor und hob vorsichtig ab. »Hallo?« sagte sie.
»Hallo, wer ist dran?« fragte eine freundliche Stimme.
»Wer ist da?« wollte Viv wissen.
»Andy«, erwiderte der Mann. »Andy Defresne. Wer sind Sie?«
»Viv.«
»Viv wer?«
»Viv Parker«, antwortete sie. »Soll das ein Witz sein? Thomas, bist du das?«
Es klickte, und die Leitung war tot.
Viv legte den Hörer auf und sah suchend in die Ecken an der Decke. Sie hatte so etwas in der Sendung Bloopers and Practical Jokes gesehen. Hier war jedoch nirgendwo eine Kamera zu erkennen. Je länger Viv dastand, desto deutlicher wurde ihr, daß sie schon viel zu lange hier war.
Sie fuhr herum, ging rasch zur Tür und packte den Türknauf. Ihre Hände waren verschwitzt. Sie wollte ihn drehen, aber er gab nicht nach. Als würde ihn jemand von außen festhalten. Sie versuchte es ein letztes Mal, und schließlich gab er nach. Aber als die Tür aufschwang, blieb sie wie angewurzelt stehen. Ein großer Mann mit zerzaustem braunen Haar versperrte den Weg.
»Viv, ja?« fragte der Mann.
»Ich schwöre Ihnen, wenn Sie mich anfassen, schreie ich so laut, daß Ihre Nüsse zerspringen wie Kristalleier.«
»Immer mit der Ruhe«, erwiderte Harris beschwichtigend und trat in den Raum. »Ich möchte nur mit Ihnen reden.«
17. KAPITEL
Ich suche nach dem Namensschild auf dem Revers des Mädchens, aber da ist keines. Meine Reaktion hat sie anscheinend verängstigt. Das kann ich ihr nicht verdenken. Nach dem, was mit Matthew passiert ist, hat sie auch allen Grund dazu.
»Kommen Sie nicht näher!« Sie weicht ein paar Schritte zurück und holt tief Luft, um aus Leibeskräften zu schreien. Ich hebe die Hand, um sie aufzuhalten. Plötzlich legt sie unvermittelt den Kopf schief.
»Moment mal ...« Sie zieht eine Braue hoch. »Ich kenne Sie!«
Ich sehe mindestens so erstaunt aus wie sie, als ich meine Brauen spielen lasse. »Wie bitte?«
»Sie haben doch ... diese Rede gehalten. Für die Pagen ...« Sie stößt gegen den Rand des Konferenztisches, läßt mich jedoch nicht aus den Augen. »Sie waren wirklich gut. Ihre Bemerkung, daß man sich die richtigen Feinde machen soll ... Darüber habe ich eine Woche nachgedacht.«
Sie versucht mich einzuwickeln. Meine Alarmglocken läuten.
»Und als Sie ...« Sie unterbricht sich und schaut zu Boden.
»Was?«
»Diese Sache mit dem Lorax ...«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Ach nein? Sie haben dem Kongreßabgeordneten Enemark diesen Sticker ans Revers geschmuggelt. Das war echt cool.«
Ich bleibe mißtrauisch. Als ich jedoch das arglose Lächeln auf ihrem Gesicht sehe, kommen mir Zweifel. Auf den ersten Blick wirkt sie beeindruckend. Das liegt nicht nur an ihrem dunklen Anzug, der sie ein oder zwei Jahre älter macht. Schon ihre Größe ... Sie ist bestimmt ein Meter fünfundsiebzig, also größer als ich, und je länger sie dasteht, desto klarer fallen mir die anderen Details auf. Sie lehnt am Tisch, läßt die Schultern hängen und hält den Kopf gesenkt. Denselben Trick hat Matthew angewendet, um sich kleiner zu machen.
»Er hat es nie rausgekriegt, habe ich recht?« Sie zögert. »Ich meine, das mit dem Lorax.«
Sie versucht, nicht zu plappern, aber ihre Aufregung ist stärker. Zuerst dachte ich, es wäre alles nur gespielt. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich nehme sie schärfer in Augenschein. Die schlechten Nähte ihres Anzuges, die Knitterfalten in ihrem Hemd ... Sie stammt eindeutig nicht aus einer wohlhabenden Familie, und so wie sie herumzappelt, ist das noch ein Thema für sie. Mit siebzehn ist es schwer genug, sich einzufügen, und es macht es noch schlimmer, wenn alle um dich herum mindestens ein oder sogar zwei Jahrzehnte älter sind. Doch der Blick ihrer mokkabraunen Augen macht sie älter. Entweder war sie schon früh wegen ihrer Armut auf sich gestellt, oder sie verdient den Oscar für die beste
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