Das Spiel
vor. Dabei kratzte ihr Daumen unablässig an der Rückseite ihres Ausweises. Bleib positiv. Sie war so nah, daß sie die Umschläge an der Hose des Senators sehen konnte. Sieh einfach hoch, sagte sie sich. Bleib positiv. Viv holte noch einmal tief Luft. Sie stählte sich, hob den Kopf, schaute dem Senator in seine dunkelgrauen Augen ... und blickte rasch wieder auf den dunkelblauen Teppich.
»Entschuldigen Sie«, flüsterte Viv, während sie sich leicht duckte und an ihm vorbeiging. Der Senator senkte nicht einmal den Blick, als sie sich vorbeischob. Sie verließ den Gang und ging zum hinteren Ende des Sitzungssaals. Hier endlich ließ Viv ihren Ausweis los, der gegen ihre Brust schlug.
»Ich habe einen für dich, Viv«, verkündete Blutter, als sie die Milchglastür aufzog und den vertrauten, muffigen Geruch der Garderobe einsog. Die Senatoren gaben hier ihre Mäntel ab, wenn sie im Sitzungssaal zu tun hatten. Es war ein enger, winziger Raum. Viv mußte nicht weit laufen, bis sie Blutter erreichte.
»Ist es weit?« fragte Viv. Sie war schon erschöpft.
»S-414-D«, erwiderte Blutter von seinem Platz hinter dem Haupttresen der Garderobe. Von den vier Vollzeitangestellten, welche die Telefone in der Garderobe bedienten, war Ron Blutter mit zweiundzwanzig der Jüngste. Ebendeshalb war er der designierte Garderobenraum-Boß, der die Pagen führte. Es war ein mieser Job. Blutter mußte die pubertierenden Sechzehn- und Siebzehnjährigen seines Teams im Auge behalten. Trotzdem war es besser, als selbst Page zu sein.
»Sie haben ausdrücklich nach dir gefragt«, fügte Blutter hinzu. »Es hat offenbar etwas mit dem Büro deines Gönners zu tun.«
Viv nickte. Der einzige Weg, einen Job als Page zu bekommen, war, einen Senator als Paten zu haben. Als einziger schwarze Page in dem ganzen Pagenprogramm wußte sie sehr gut, daß der Job noch andere Anforderungen stellte, als Päckchen auszuliefern. »Wieder ein Fototermin?« fragte sie.
»Vermutlich.« Blutter zuckte die Schultern, während Viv sich in die Aufenthaltsliste eintrug. »Nach der Zimmernummer zu urteilen ... Vielleicht ist es auch nur ein Empfang.«
»Na klar.« Hinter ihr öffnete sich die Tür der Garderobe, und der Senator aus Illinois kam herein. Er ging schnurstracks zu einer der alten, hölzernen Telefonnischen, die den schmalen, L-förmigen Raum säumten. Wie üblich standen die Senatoren in den Nischen, nahmen ihre Anrufe entgegen und redeten. Der Senator trat in die erste Nische und schloß die Tür.
»Übrigens, Viv«, fuhr Blutter fort, als sein Telefon klingelte. »Laß dich von Senator Spooky nicht einschüchtern. Es liegt nicht an dir. Immer wenn er sich auf eine Rede vorbereitet, starrt er durch jeden hindurch, als wäre er ein Gespenst.«
»Nein, ich weiß ... Ich habe nur ...«
»Es liegt nicht an dir. Es liegt an ihm«, wiederholte Blutter. »Hast du mich verstanden? Er ist es.«
Viv hob das Kinn, schob ihre Schultern zurück und knöpfte ihr blaues Jackett zu. Ihr Ausweis baumelte vor ihrer Brust. Sie ging so rasch wie möglich zur Tür. Blutter beantwortete den Anruf. Sie würde niemals zulassen, daß er ihr Lächeln sah.
***
414-B ... S-414-C ... S-414-D ... Viv zählte leise mit, während sie den Zimmernummern im dritten Stock des Capitols folgte. Sie hatte nicht gewußt, daß Senator Kalo hier oben sein Büro hatte, aber das war typisch Capitol: Sie waren über das ganze Gebäude verstreut. Sie blieb an der schweren Eichentür stehen und klopfte kurz und laut.
Sie wartete, aber niemand reagierte.
Sie klopfte sicherheitshalber noch einmal.
Keine Antwort.
Sie drehte den Knopf und öffnete die Tür einen winzigen Spalt. »Senatspage!« verkündete sie. »Jemand da?«
Immer noch nichts. Viv dachte nicht nach. Wenn ein Mitarbeiter den Senator wegen des Fototermins suchte, sollte sie neben dem Schreibtisch warten. Doch hier gab es nicht einmal einen Schreibtisch. Nur zwei große Mahagonitische, die in der Mitte des Zimmers zusammengeschoben worden waren, damit ein Dutzend veraltete Computermonitore darauf Platz fand. Links von ihr standen drei rote Rollstühle aufeinander, während zu ihrer Rechten leere Aktenschränke, Lagerkisten, einige ausgemusterte Tastaturen und sogar ein Kühlschrank, der auf dem Kopf stand, zu einem improvisierten Haufen aufgeschichtet waren. Die Wände waren kahl. Keine Bilder, keine Diplome, nichts Persönliches. Das war kein Büro, eher ein Lagerraum. Nach dem Staub auf den halb herabgelassenen
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