Das Spiel
Taxi.
»Taxi!« rufen Viv und ich gleichzeitig, als eines abbremst.
Wir springen hinein und schlagen die Türen zu. Von Janos ist nichts zu sehen. Vorläufig. »Wir haben es geschafft.« Ich ducke mich in meinen Sitz und mustere die Menschenmenge.
Viv macht sich nicht die Mühe hinauszusehen. Sie ist zu sehr damit beschäftigt, mich mit ihren Blicken zu durchbohren. Ihre braunen Augen glühen, teils aus Angst, in die sich jetzt auch Wut mischt.
»Du hast mich belogen!« beschuldigt sie mich.
»Viv, bevor du ...«
»Ich bin kein Idiot!« fährt sie fort und ringt immer noch nach Luft. »Erklär mir gefälligst, was zum Teufel hier eigentlich los ist!«
28. KAPITEL
Ich fahre mit dem Aufzug in das Untergeschoß des Smithonian-Museums für amerikanische Geschichte. Ich behalte die Leute im Auge. Meine Hand liegt auf Vivs Schulter. Das beruhigt sie am besten. Sie hat zwar einen Gang heruntergeschaltet, doch ihre Nervosität ist gestiegen. Nach den Ereignissen im Capitol traut sie niemandem mehr. Mir auch nicht, das merke ich, als sie mit einem Schulterzucken meine Hand abstreift.
Das Museum ist sicher nicht der geeignete Ort, um sie umzustimmen, aber wenigstens ist es belebt. Hier wird Janos uns wohl kaum angreifen. Auf der Fahrt nach unten betrachtet Viv die Gesichter der anderen Fahrgäste. Als eines von zwei schwarzen Mädchen an einer sonst nur von Weißen besuchten Schule und als einziger schwarzer Senatspage ist sie bestimmt an ihre Außenseiterrolle gewöhnt. Aber so wie jetzt hat sie sich zweifellos noch nie gefühlt. Ich klappe den Museumsplan auf, den ich vom Informationsstand bekommen habe, und schirme uns von der Menschenmenge ab. Wenn wir als Touristen durchgehen wollen, sollten wir uns auch so benehmen.
Wir verlassen den Aufzug. Ich entdecke die altmodische Eisdiele gegenüber. »Möchtest du ein Eis?«
Viv bedenkt mich mit einem Blick, der mich an Journalisten aus dem Pressecorps erinnert. »Sehe ich aus wie dreizehn?«
Sie hat allen Grund, wütend zu sein. Sie wollte mir nur einen schlichten Gefallen tun. Deswegen rennt sie seit einer halben Stunde um ihr Leben. Schon aus diesem Grund muß sie erfahren, was wirklich vorgeht.
»Ich wollte nicht, daß dies passiert«, fange ich an.
»Ach nein?« Sie sieht mich finster an.
»Viv, als du mir deine Hilfe angeboten hast...«
»Du hättest sie nicht annehmen dürfen! Ich hatte keine Ahnung, auf was ich mich da einlasse!«
Dagegen kann ich nichts sagen. »Es tut mir leid«, bringe ich schließlich heraus. »Ich hätte nie erwartet, daß sie ...«
»Spar dir deine lahmen Ausreden, Harris. Sag mir einfach, warum Matthew umgebracht worden ist.«
Mir war nicht klar, ob sie davon wußte. Ich habe sie nicht zum ersten Mal unterschätzt.
Wir schlendern durch die Ausstellung, die A Material World heißt. In den Glasvitrinen wird Amerikas Industrieentwicklung dargestellt. Von Rinderhäuten bis zu Rubiks Würfel und einem PacMan-Computerspiel. »Das ist Fortschritt«, tönt ein Führer nicht weit von uns. Ich schaue Viv an. Es wird Zeit, auch hier Fortschritte zu machen.
Ich benötige fünfzehn Minuten, um ihr die Wahrheit zu sagen. Über Matthew und Pasternak und meinen Versuch, mich an den Stellvertretenden Generalstaatsanwalt zu wenden. Zu meiner Verblüffung zeigt sie keine Reaktion. Bis ich ihr erzähle, was die Dominosteine angestoßen hat. Das Spiel und unsere Wette.
Sie öffnet den Mund und schlägt beide Hände über den Kopf. Anscheinend explodiert sie gleich.
»Du hast gewettet?« fragt sie.
»Es klingt verrückt, ich weiß ...«
»Das hast du tatsächlich getan? Auf den Kongreß gewettet?«
»Es war wirklich nur ein albernes Spiel.«
»Candyland ist ein albernes Spiel. Mad Libs ist ein blödes Spiel! Das hier ist Realität!«
»Wir haben nur auf unwichtige Abstimmungen gesetzt. Nichts war wirklich wichtig ...«
»Alles ist wichtig!«
»Viv, bitte ...!« Ich sehe mich um. Einige Touristen starren uns schon an.
Sie senkt die Stimme, doch ihr Zorn ist nicht verraucht. »Wie konntest du so etwas tun? Du hast uns gesagt, wir sollten ...« Ihre Stimme bricht. »Diese ganze Rede, die du gehalten hast ... Alles, was du erzählt hast, war Mist!«
Erst jetzt wird mir klar, daß ich sie falsch verstanden habe. Sie ist nicht verärgert, sie ist enttäuscht. Sie läßt ihre Schultern sinken. Mehr noch, sie ist traurig. Ich arbeite seit einem Jahrzehnt auf dem Hügel, Viv kaum einen Monat. Erst nach drei Jahren Enttäuschungen und
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