Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
allem unterschiedlicher Meinung, doch Gebhardt fand etwas heraus, was ihnen allen gemeinsam war: Alle hassten Alfred Rosenberg. Nachdem er Alfred mehrere Wochen lang täglich besucht hatte, wusste er auch, weshalb.
Auch wenn Alfred es gespürt haben mochte, schwieg er unverdrossen und verbrachte Woche um Woche in der Klinik von Hohenlychen mit der Lektüre deutscher und russischer Klassiker. Er weigerte sich, Gespräche mit den Angestellten oder den anderen Patienten zu führen. Eines Morgens, es war seine fünfte Woche in der Klinik, fühlte er sich extrem agitiert und beschloss, einen kleinen Spaziergang auf dem Klinikgelände zu unternehmen. Als er feststellte, dass er zu müde war, um sich die Schuhe zuzubinden, fluchte er und schlug sich heftig auf beide Wangen, um sich wachzurütteln. Er musste etwas unternehmen, um zu verhindern, dass er in eine unumkehrbare Verzweiflung rutschte.
In seiner Not rief er sich Friedrichs Gesicht ins Gedächtnis. Friedrich hätte gewusst, was zu tun war. Was hätte er vorgeschlagen? Zweifellos hätte er versucht, der Ursache dieser vermaledeiten Depression auf den Grund zu gehen. Alfred stellte sich Friedrichs Worte vor: »Wann fing das alles an? Lass deine Gedanken frei fließen und geh zurück an den Anfang deines Abstiegs. Beobachte einfach alle Gedanken, alle Bilder, die dir in den Kopf kommen. Nimm sie wahr. Schreib sie auf, wenn du kannst.«
Alfred versuchte es. Er schloss die Augen und beobachtete die vorbeiziehende Parade in seinem Kopf. Er ließ sich durch die Zeit zurücktreiben und beobachtete, wie sich ein Vorfall herausschälte.
Es ist mehrere Jahre her, und er ist in seinem Büro des VB. Er sitzt an dem Schreibtisch, den Hitler ihm gekauft hat. Er sitzt an der Schlussredaktion seines Meisterwerks Der Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts . Auf der letzten Seite angekommen, legt er den Rotstift zur Seite, grinst triumphierend, schüttelt das siebenhundertseitige Manuskript zu einem ordentlichen Stapel zusammen, fixiert es mit zwei dicken Gummibändern und drückt es liebevoll an seine Brust.
Ja, die Erinnerung an seinen schönsten Moment lässt auch jetzt noch eine Träne, vielleicht auch deren zwei, über sein Gesicht laufen. Alfred empfand Zuneigung zu diesem jüngeren Selbst, zu diesem jungen Mann, der wusste, dass der Mythus die Welt in Erstaunen versetzen würde. Der Reifungsprozess war lang und mühsam gewesen – zehn Jahre lang jeden einzelnen Sonntag und dann noch jede Stunde an Wochentagen, die er abzwacken konnte – aber es war den Preis wert gewesen. Ja, ja – er wusste, er hatte seine Frau und seine Tochter vernachlässigt, aber was war das schon im Vergleich zu der Erschaffung eines Buches, das die Welt in Brand setzen würde, eines Buches, das eine neue Philosophie der Geschichte lieferte, basierend auf Blut, Rasse und Seele, eine neue Wertschätzung des Volkes, der völkischen Kunst, Architektur, Literatur und Musik und, am allerwichtigsten, ein neues Grundlagenwerk über die Werte des zukünftigen Reiches.
Alfred streckte die Hand zum Nachttisch aus, wo sein persönliches Exemplar des Mythus lag, und blätterte es wahllos durch. Bestimmte Passagen erinnerten ihn sofort an den Schauplatz seiner Inspiration. Als er den Kölner Dom besucht und die Kreuzigung Jesu und die Heerscharen ausgemergelter, geschwächter Märtyrer in den bunten Glasfenstern betrachtet hatte, entstand ein davon inspirierter Gedanke – die römisch-katholische Kirche stand nicht im Gegensatz zum Judentum. Obgleich die Kirche erklärte, antijüdisch zu sein, war sie in der Tat der wichtigste Kanal, durch den jüdische Gedanken den gesunden Körper deutschen Gedankenguts infizierten. Mit großem Vergnügen las er seine eigenen Worte:
»Abgeschafft werden muß danach ein für allemal das sogen. Alte Testament als Religionsbuch. Damit entfällt der mißlungene Versuch der letzten anderthalb Jahrtausende, uns geistig zu Juden zu machen. … Eine deutsche Kirche wird anstelle der Kreuzigung den lehrenden Feuergeist, den Helden im höchsten Sinn darstellen.«
Ja, dachte er, solche Passagen waren der Grund dafür, dass der Mythus im Jahr 1934 auf den katholischen Index verbotener Bücher gekommen war. Aber das war kein Unglück – es war ein Geschenk des Himmels, der die Verkaufszahlen in die Höhe trieb. Über dreihunderttausend Exemplare verkauft, und nun liegt mein Mythus direkt hinter Mein Kampf an zweiter Stelle. Und trotzdem sitze ich hier und bin emotional
Weitere Kostenlose Bücher