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Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)

Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)

Titel: Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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es gibt keinen Zweifel: Hitler ist das Problem. Mehr als alles auf der Welt wünsche ich mir seine Zuwendung. Mehr als alles andere. Mir graut davor, ihn zu verdrießen. Ich führe die einflussreichste Zeitung in Deutschland; ich bin für die spirituelle und philosophische Ausbildung aller Nationalsozialisten zuständig. Aber schreibe ich die notwendigen Artikel? Gebe ich die notwendigen Vorlesungen? Plane ich die Curricula? Überwache ich die Ausbildung aller jungen Deutschen? Nein, Reichsleiter Rosenberg ist zu beschäftigt, um darüber zu brüten, weshalb er von Adolf Hitler kein liebevolles Lächeln, kein Nicken oder, Gott bewahre, eine Einladung zum Essen erhalten hat!
    Ich widere mich an. Das muss endlich aufhören!
    Alfred stand auf und ging an seinen Schreibtisch. Er griff in seinen Aktenkoffer und nahm seine »Nein«-Mappe heraus. (Er hatte zwei Mappen: eine »Ja«-Mappe, die positive Rezensionen, Fanpost und Zeitungsartikel enthielt, und eine »Nein«-Mappe, in der alle gegenteiligen Ansichten gesammelt wurden.) Die »Ja«-Mappe war schon ziemlich abgegriffen. Mehrmals pro Woche sah Alfred die schmeichelhaften Rezensionen und Briefe seiner Anhänger durch, die tägliches Stärkungsmittel für ihn waren – nicht anders als seine morgendliche Dosis Vitamine. Aber inzwischen ließ die Wirkung dieses Stärkungsmittels nach. Nun gingen ihm alle »Ja«-Kommentare kaum noch unter die Haut, höchstens einen Millimeter, und sie verflüchtigten sich schnell. Die »Nein«-Mappe andererseits war unbekanntes Terrain – eine Höhle, die selten aufgesucht wurde. Heute! Heute sollte der Wendepunkt sein! Er würde sich seinen Dämonen stellen. Als Alfred in die bisher unberührte Mappe griff, stellte er sich die überraschten Briefe und Artikel vor, die vor ihm Reißaus nehmen wollten. Ein Lächeln, das erste seit vielen Wochen, umspielte seine Lippen, als er sich zu seinem skurrilen Sinn für Humor gratulierte. Er nahm ein beliebiges Blatt heraus – es war an der Zeit, diese Torheit zu überwinden. Ein tapferer Mann zwingt sich dazu, täglich schmerzliche Dinge zu lesen, bis sie nicht mehr schmerzen. Er warf einen Blick darauf – ein Brief von Hitler mit dem Datum vom vierundzwanzigsten August 1931:
    »Sehr geehrter Herr Rosenberg!
    Ich lese soeben im Völkischen Beobachter Ausgabe 235/236, Seite l, einen Artikel ›Wirth will überlaufen?‹. Die Tendenz des Artikels ist, ein Abbröckeln der derzeitigen Regierungsform von uns aus zu verhindern. Ich selbst fahre nun kreuz und quer in Deutschland herum, um gerade das Gegenteil zu erreichen.
    Ich darf daher bitten, daß mir meine eigene Zeitung durch taktisch unkluge Artikel nicht in den Rücken fällt. …
    Mit deutschem Gruß!
    Adolf Hitler«
    Eine Welle von Verzweiflung schwappte über ihn. Der Brief war fünf Jahre alt, zeigte aber immer noch Wirkung, schmerzte noch immer. Schriftliche Wunden, von Hitler beigebracht, heilten nie. Durch heftiges Kopfschütteln versuchte Alfred, den Kopf freizubekommen. Denk über den Mann namens Hitler nach, sagte er zu sich. Er ist schließlich auch nur ein Mensch. Er schloss die Augen und ließ seinen Gedanken freien Lauf.
    Ich führte Hitler des Langen und Breiten in die Geheimnisse der deutschen Kultur ein. Ich zeigte ihm die Unermesslichkeit der jüdischen Geißel. Ich schliff seine Gedanken hinsichtlich Rasse und Blut. Er und ich wanderten durch dieselben Straßen, saßen in denselben Kaffeehäusern, unterhielten uns ununterbrochen, arbeiteten gemeinsam an Artikeln für den Beobachter, und einmal zeichneten wir sogar gemeinsam. Aber das ist vorbei. Nun kann ich ihn nur mit Verwunderung beobachten und komme mir dabei wie eine Henne vor, die zu einem Habicht aufblickt. Ich war Zeuge, als er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis die in alle Winde zerstreuten Parteimitglieder wieder einsammelte, als er sich den Wahlen zum Parlament stellte, als er eine Propagandamaschinerie aufbaute, wie es sie bislang noch nie gab – eine Maschinerie, die die Postwurfsendung erfand und ständig Wahlkampf machte, auch wenn es keine Wahlen gab. Ich sah, wie er in den ersten paar Jahren Ergebnisse von unter fünf Prozent mit einem Schulterzucken abtat und immer mehr dazugewann, bis seine Partei 1930 mit achtzehn Prozent der Stimmen die zweitgrößte in Deutschland wurde. Und 1932 kündigte er mit riesigen Schlagzeilen an, dass die NSDAP mit achtunddreißig Prozent der Stimmen die größte Partei geworden war. Manche sagen, Goebbels sei das

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