Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
allerdings nur schaudern. Das ist so abstrus.«
»Ich gehe nur deiner Anfrage nach, auf welche Weise Goethe Hilfe von Spinoza bekam, und deinem Wunsch, die gleichen Segnungen zu erhalten. In Spinozas Werk gibt es nicht nur eine einzige Technik. Er bietet nicht nur eine einzige Übung wie Bekenntnis, Katharsis oder Psychoanalyse an. Man muss ihm Schritt für Schritt folgen, um zu seiner allumfassenden Ansicht über die Welt, das Verhalten und die Moral zu gelangen.«
»Ich leide Qualen wegen Hitler. Was würde er vorschlagen, wie ich sie lindern könnte?«
»Spinoza vertrat die Auffassung, dass wir Qualen und alle menschlichen Leidenschaften dadurch überwinden können, dass wir zu dem Verständnis gelangen, dass die Welt aus Logik gewebt ist. Sein Glaube daran ist so stark, dass er sagt …«, Friedrich blätterte in dem Buch, »… er werde ›die menschlichen Handlungen und Begierden geradeso betrachten, als handelte es sich um Linien, Flächen oder Körper‹.«
»Und was mich und Hitler betrifft?«
»Er hätte bestimmt gesagt, dass du Leidenschaften ausgesetzt bist, die eher von unangemessenen Ideen gesteuert werden als von Ideen, die aus einer aufrichtigen Suche nach dem Verständnis des Wesens der Realität fließen.«
»Und wie befreit man sich von diesen unangemessenen Ideen?«
»Er legt explizit dar, dass eine Leidenschaft aufhört, eine Leidenschaft zu sein, sobald wir eine klarere und feinere Vorstellung davon bilden – und zwar das kausative Gefüge, das der Leidenschaft zugrunde liegt.«
Alfred sagte nichts mehr, sank in seinem Stuhl zusammen und machte ein verkniffenes Gesicht, als habe er geronnene Milch getrunken. »Das hat etwas sehr Beunruhigendes an sich. Sehr beunruhigend. Ich glaube, ich beginne, den Juden in Spinoza zu sehen – er hat etwas Schlaffes, Blasses, Schwaches und Antideutsches. Er lehnt den Willen ab und stempelt Leidenschaft als minderwertig ab, während wir modernen Deutschen den genau gegenteiligen Standpunkt vertreten. Leidenschaft und Wille sind keine Merkmale, die beseitigt werden müssen. Die Leidenschaft ist das Herz und die Seele des Volkes, deren Trinität Mut, Loyalität und physische Kraft ist. Ja, es besteht kein Zweifel: Spinoza hat etwas Antideutsches an sich.«
»Alfred, du lässt dich zu schnell zu Schlussfolgerungen hinreißen. Weißt du noch, dass du damals die Ethik hingeworfen hast, weil die ersten paar Seiten mit abstrusen Axiomen und Definitionen vollgepflastert waren? Um Spinoza so zu verstehen, wie Goethe es tat, müssen wir uns mit seiner Sprache vertraut machen und Schritt für Schritt, Lehrsatz für Lehrsatz der Konstruktion seines Weltbildes folgen. Du bist Wissenschaftler. Ich bin sicher, dass du Jahre mit geschichtlichen Recherchen für deinen Mythus zugebracht hast. Und dennoch weigerst du dich, Spinoza, einem der größten Denker in der Geschichte, mehr als einen flüchtigen Blick auf seine Kapitelüberschriften zuzugestehen. Die großen deutschen Intellektuellen haben sich tief in sein Werk vergraben. Gib ihm die Zeit, die er verdient.«
»Ständig verteidigst du die Juden.«
»Er repräsentiert nicht die Juden. Er tritt für die reine Vernunft ein. Die Juden haben ihn verstoßen.«
»Seit langem habe dich schon davor gewarnt, mit Juden zusammen zu studieren. Ich habe dich davor gewarnt, dieses jüdische Gebiet zu betreten. Ich habe dich vor der großen Gefahr gewarnt, in der du dich befindest.«
»Du kannst dich entspannen. Die Gefahr ist vorüber. Alle Juden im Psychoanalytischen Institut haben das Land verlassen. Darunter auch Albert Einstein. Und all die anderen großen jüdisch-deutschen Wissenschaftler. Und auch die großen deutschen, nichtjüdischen Schriftsteller – wie Thomas Mann und zweihundertfünfzig unserer begnadetsten Schriftsteller. Glaubst du wirklich, dass das unser Land stärkt?«
»Mit jedem Juden oder Judenfreund, der das Land verlässt, wird Deutschland stärker und reiner.«
»Glaubst du, ein solcher Hass …«
»Es geht nicht um Hass. Es geht darum, die Rasse zu bewahren. Für Deutschland ist die Judenfrage erst dann gelöst, wenn der letzte Jude den großdeutschen Raum verlassen hat. Ich wünsche ihnen nichts Schlimmes. Ich will nur, dass sie woanders leben.«
Friedrich hatte gehofft, Alfred zu zwingen, die Konsequenzen seiner Ziele zu betrachten. Er spürte die Sinnlosigkeit, diesen Pfad weiter zu beschreiten, konnte sich aber nicht beherrschen. »Empfindest du es nicht als schlimm, Millionen von Menschen
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