Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
sich an die Arbeit. »Sag mir, Alfred, was ist unser Ziel? Ich möchte dir helfen. Was möchtest du von mir bekommen?«
Alfred zögerte einige Augenblicke lang und sagte dann: »Was hältst du von folgender Idee? In den letzten Wochen habe ich ziemlich viel gelesen.« Er zeigte auf den Stapel Bücher, der sich im Zimmer auftürmte. »Ich befasse mich wieder mit den Klassikern, insbesondere mit Goethe. Weißt du noch, dass ich dir von meinem Problemen mit dem stellvertretenden Direktor Epstein kurz vor meinem Schulabschluss erzählt habe?«
»Hilf mir auf die Sprünge.«
»Wegen einer antisemitischen Rede, die ich als Klassensprecher gehalten hatte, wurde von mir verlangt, einige Abschnitte aus Goethes Autobiographie auswendig zu lernen.«
»Ach ja, ja – jetzt fällt mir alles wieder ein. Ein paar Abschnitte über Spinoza. Sie gaben dir diese Aufgabe, weil Goethe Spinoza so sehr bewundert hat.«
»Ich hatte eine solche Angst, vielleicht keinen Abschluss zu erhalten, dass ich die Passagen damals auswendig gelernt habe. Ich könnte sie dir sogar jetzt noch herunterleiern, aber um es kurz zu machen, fasse ich nur die wichtigsten Punkte zusammen: Goethe schrieb, dass er in einer nervösen Gemütsverfassung gewesen sei und die Lektüre von Spinoza ihm eine erstaunliche Beruhigung seiner Leidenschaften vermittelt hätte. Spinozas mathematische Methode hätte ihm ein wunderbares Gleichgewicht zu seinen aufwühlenden Gedanken gegeben und zu Ruhe und einem disziplinierteren Denken geführt, wodurch es ihm gelungen war, seinen eigenen Schlussfolgerungen zu vertrauen und sich vom Einfluss anderer frei zu fühlen.«
»Gut gesagt, Alfred. Und im Hinblick auf dich und mich …?«
»Nun, das möchte ich von dir bekommen. Ich will das Gleiche, was Goethe von Spinoza bekommen hat. Das alles brauche ich auch. Ich möchte ein Beruhigungsmittel meiner Leidenschaften. Ich möchte …«
»Das ist gut. Sehr gut. Warte einen Augenblick. Das möchte ich kurz aufschreiben.« Friedrich schraubte seinen Füllfederhalter auf, ein Geschenk seines Supervisors, und schrieb: »Beruhigungsmittel der Leidenschaften«. Alfred fuhr fort, und Friedrich schrieb mit. »Freiheit vom Einfluss anderer. Gleichgewicht. Ruhiges, diszipliniertes Denken.«
»Gut, Alfred. Es wäre für uns beide gut, uns wieder Spinoza zuzuwenden. Und wenn wir obendrein versuchen, seine Ideen anzuwenden, könnte das einem philosophisch geneigten Geist wie dem deinen entgegenkommen. Vielleicht hält uns dieses Vorgehen auch von strittigen Themen ab. Treffen wir uns doch morgen zur selben Zeit, und inzwischen mache ich mich an die Arbeit und werde in Spinozas Werk schmökern. Darf ich mir deine Autobiographie von Goethe ausleihen? Und hast du noch dein Exemplar der Ethik ?«
»Es ist noch dasselbe Exemplar, das ich gekauft habe, als ich zwanzig war. Übrigens soll Goethe die Ethik ein ganzes Jahr lang in seiner Tasche mit sich herumgetragen haben. Ich habe das nicht getan. Ehrlich gesagt, habe ich sie seit Jahren nicht mehr in die Hand genommen. Und trotzdem bringe ich es nicht über mich, sie loszuwerden.«
Obwohl Friedrich ein paar Minuten zuvor noch unbedingt gehen wollte, setzte er sich nun wieder hin. »Ich weiß, was ich machen werde. Ich werde versuchen, die Passagen und Gedanken zu lokalisieren, die Goethe geholfen haben und die dir vielleicht auch helfen werden. Aber ich glaube, ich muss mehr darüber erfahren, was diesen jetzigen Depressionsschub ausgelöst hat.«
Alfred erzählte von seiner Selbstanalyse, die er vorhin durchgeführt hatte. Er erzählte Friedrich von seiner fehlenden Freude an seinen Erfolgen und dass der Mythus , seine größte Errungenschaft, ihm dermaßen zugesetzt hatte. Er schüttete ihm sein Herz aus, insbesondere dahingehend, dass alles unvermeidlich immer wieder bei Hitler endete. Alfred schloss seine Ausführungen mit: »Ich erkenne jetzt deutlicher denn je, dass mein ganzes Selbstwertgefühl von Hitlers Meinung von mir abhängt. Darüber muss ich hinwegkommen. Ich bin ein Sklave der Sehnsucht nach seiner Anerkennung.«
»Ich erinnere mich an deinen inneren Kampf mit diesem Thema in unserem letzten Gespräch. Du erzähltest mir, dass Hitler immer die Gesellschaft anderer bevorzugte und dich nie in den inneren Kreis einbezog.«
»Nimm jetzt das Gefühl, das ich damals hatte, multipliziere es mit zehn oder auch mit hundert. Es ist ein Fluch; es hat sich in jeden Winkel meiner Seele eingenistet. Ich muss es austreiben.«
»Ich werde
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