Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
Zyanid und brachten sich anschließend gemeinsam um. Ungeachtet dessen rotierten die Druckerpressen des Völkischen Beobachters bis zur deutschen Kapitulation am achten Mai 1945. Als seine Büros gestürmt wurden, fanden die Russen einige vordatierte Exemplare. Die letzte nicht verteilte Ausgabe, datiert auf den elften Mai 1945, enthielt einen Überlebensleitfaden mit dem Titel »Überleben auf deutschen Feldern und in deutschen Wäldern«.
Nach Hitlers Tod flohen Alfred und mit ihm andere überlebende Nazi-Führer nach Flensburg, wo Admiral Dönitz, das neue Staatsoberhaupt, seine Regierung zusammenrief. Alfred hoffte darauf, dass er als dienstältester überlebender Reichsleiter gebeten wurde, dem Kabinett beizutreten. Aber niemand nahm überhaupt Notiz von ihm. Schließlich schickte er einen sorgfältig formulierten Kapitulationsbrief an Feldmarschall Montgomery. Aber selbst die Briten erkannten seine Bedeutung nicht gebührend an, und Reichsleiter Rosenberg wartete sechs Tage lang ungeduldig in seinem Hotel, bis die britische Militärpolizei auftauchte und ihn festnahm. Kurz danach wurde er der amerikanischen Obhut überstellt und davon informiert, dass er zusammen mit einer kleinen Gruppe von NS-Hauptkriegsverbrechen ausgewählt wurde, um im eigens dafür einberufenen internationalen Tribunal in Nürnberg angeklagt zu werden.
NS-Hauptkriegsverbrecher! Tatsächlich! Ein Lächeln huschte über Alfreds Lippen.
In der Zwischenzeit stiegen in Rijnsburg am achten Mai, am Tag des Kriegsendes, Selma de Vries-Cohen und deren betagte Mutter Sophie aus ihrem winzigen Zimmer von der Leiter und traten zum ersten Mal seit Jahren hinaus in die Sonne. Sie gingen ums Haus herum zum Eingang des Spinoza-Hauses, wo sie sich ins Gästebuch eintrugen – es war die erste Eintragung seit vier Jahren: »In dankbarer Erinnerung an die Zeit, die wir uns hier verbergen durften. An das Spinoza-Haus und an diejenigen, die so vortrefflich für uns sorgten und unser Leben vor der deutschen Bedrohung retteten.«
33
VOORBURG, DEZEMBER 1666
Bento schüttelte erstaunt den Kopf, ging zur huishouder und sagte ihr leise auf Holländisch, dass sie beide auf das Mittagessen verzichten wollten.
Nachdem sie fort war, rief er: »Koscher! Sie essen koscher?«
»Natürlich! Bento, was dachten Sie denn? Ich bin Rabbiner!«
»Und ich bin ein verdutzter Philosoph. Sie sind mit mir einer Meinung, dass es keinen übernatürlichen Gott gibt, der Wünsche hat oder Forderungen stellt, der zufrieden oder irritiert ist und der sich unserer Wünsche, Gebete, ja selbst unserer schieren Existenz nicht bewusst ist?«
»Natürlich bin ich dieser Meinung.«
»Und Sie sind auch mit mir einer Meinung, dass die gesamte Thora – einschließlich Leviticus mit der Halacha und allen ihren obskuren Speisevorschriften – eine Sammlung theologischer, rechtlicher, mythologischer und politischer Schriften ist, die Ezra vor zweitausend Jahren zusammengestellt hat?«
»Sie sagen es.«
»Und dass Sie ein neues, aufgeklärtes Judentum ins Leben rufen werden?«
»Das ist meine Hoffnung.«
»Aber aufgrund von Gesetzen, von denen Sie wissen, dass sie reine Erfindung sind, können Sie nicht mit mir speisen?«
»Ah, was Letzteres angeht, haben Sie nicht Recht, Bento.« Franco griff in seine Tasche und entnahm ihr ein Paket. »Die Familie, die ich in Den Haag besucht habe, gab mir etwas zu essen mit. Genießen wir nun gemeinsam ein jüdisches Mahl.«
Während Franco geräucherten Hering, Brot, Käse und zwei Äpfel auspackte, fuhr Bento fort: »Aber Franco, ich frage Sie abermals: Warum essen Sie immer noch koscher? Wie können Sie Ihren Verstand ausschalten? Es schmerzt mich, einen Mann von dieser Intelligenz zu sehen, der sich solchen willkürlichen Gesetzen gehorsam beugt. Und, Franco, bitte, ich bitte Sie, ersparen Sie mir die übliche Antwort darauf, dass Sie die zweitausend Jahre alte Tradition am Leben halten müssen.«
Franco aß einen Bissen von dem Hering, trank einen Schluck Wasser und dachte einige Augenblicke nach. »Ich versichere Ihnen abermals, dass ich wie Sie – wie Sie, Bento – die Irrationalität in unserer Religion missbillige. Denken Sie daran, wie ich an die Vernunft appellierte, als ich zu meiner Gemeinde über den falschen Messias sprach. Ich möchte wie Sie unsere Religion ändern, aber anders als Sie glaube ich, dass sie von innen her verändert werden muss. Tatsächlich kam ich durch diesen Vorfall, den Sie erlitten, zu dem Schluss, dass sie
Weitere Kostenlose Bücher