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Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)

Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)

Titel: Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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nur von innen her verändert werden kann. Wenn ich das Judentum wirksam verändern und meine Gemeinde von übernatürlichen Erklärungen abkehren will, dann muss ich zuerst ihr Vertrauen gewinnen. Sie müssen mich als einen der Ihren ansehen, und dazu gehört es, koschere Vorschriften einzuhalten. Als Rabbiner in meiner Gemeinde ist es notwendig – ja unabdingbar –, dass jeder Jude auf der Welt mich gern besucht und gern bei mir zu Hause speist.«
    »Und deshalb befolgen Sie all die anderen Gesetze und die zeremoniellen Rituale?«
    »Ich befolge den Sabbat. Ich lege Tefillin . Ich spreche Gebete zu den Mahlzeiten, und natürlich leite ich viele der Gottesdienste in der Synagoge – jedenfalls bis vor kurzem. Bento, Sie wissen, dass der Rabbiner ganz und gar in das religiöse Leben der Gemeinde eintauchen muss …«
    »Und«, unterbrach Bento, »Sie tun das ausschließlich aus dem Grund, das Vertrauen der Leute zu gewinnen?«
    Franco zögerte einen Augenblick. »Nicht ausschließlich. Es wäre unehrlich, das zu behaupten. Wenn ich meine zeremoniellen Pflichten erfülle, achte ich oft nicht auf den Text der Gebete und verliere mich im Ritual und in der angenehmen Woge der Gefühle, die über mich hinwegstreicht. Die Gesänge inspirieren mich und versetzen mich in Verzückung. Und ich liebe die Poesie der Psalmen und der Pijjutim . Ich liebe die Kadenz, die Alliteration; und ich bin sehr berührt von dem Pathos angesichts des Alterns und davon, dem Tod ins Auge zu blicken und sich nach Erlösung zu sehnen.
    Aber es gibt sogar noch etwas Wichtigeres«, fuhr Franco fort. »Wenn ich die hebräischen Melodien gemeinsam mit der ganzen Kongregation lese und singe, fühle ich mich sicher; ich fühle mich zu Hause, fast, als sei ich mit meinen Leuten vereint. Zu wissen, dass alle anderen dort die gleiche Verzweiflung und die gleiche Sehnsucht empfinden, erfüllt mich mit Liebe zu jedem dieser Menschen. Haben Sie das selbst noch nie erlebt, Bento?«
    »Als ich jung war, ganz bestimmt. Aber jetzt nicht mehr. Seit vielen Jahren nicht mehr. Ich kann meine Aufmerksamkeit nicht wie Sie von der Bedeutung der Worte abwenden. Mein Geist ist immer wachsam, und kaum war ich alt genug, die eigentliche Bedeutung der Thora zu erforschen, schwand auch allmählich meine Nähe zur Gemeinde.«
    »Sie sehen«, sagte Franco und fasste Bento am Arm, »genau hier unterscheiden wir uns fundamental. Ich bin nicht der Meinung, dass alle Gefühle sich dem Verstand unterordnen müssen. Es gibt Gefühle, die es verdienen, einen gleichwertigen Status mit dem Verstand zu haben. Nehmen Sie beispielsweise die Nostalgie. Wenn ich Gebete leite, stelle ich eine Verbindung zu meiner Vergangenheit her, zu meinem Vater und meinem Großvater und, ja, Bento, ich wage es zu sagen, ich denke an meine Vorfahren, die seit zweitausend Jahren dieselben Zeilen sprechen, dieselben Gebete beten, dieselben Melodien singen. In diesen Momenten schwindet meine Selbstherrlichkeit, mein Gefühl, von ihnen getrennt zu sein, und ich werde ein Teil, ein sehr kleiner Teil eines ununterbrochenen Stroms einer Gemeinschaft. Dieser Gedanke bietet mir etwas Unschätzbares – wie soll ich es beschreiben? –, eine Verbindung, eine Vereinigung mit anderen, die außerordentlich tröstlich ist. Ich brauche das. Ich stelle mir vor, dass jeder das braucht.«
    »Aber Franco, was ist der Vorteil dieser Gefühle? Was ist der Vorteil, sich weiter vom wahren Verstehen zu entfernen? Sich weiter von einem wahren Wissen um Gott zu entfernen?«
    »Vorteil? Wie steht es mit dem Überleben? Leben wir nicht seit Menschengedenken in einer Art Gemeinschaft, auch wenn es nur eine Familie ist? Wie könnten wir anders überleben? Haben Sie denn überhaupt keine Freude an Gemeinschaft? Keinen Sinn dafür, zu irgendeiner Gruppe zu gehören?«
    Bento wollte schon den Kopf schütteln, besann sich aber schnell eines anderen. »Dieses Gefühl habe ich seltsamerweise am Tag vor unserem letzten Treffen empfunden. Auf dem Weg nach Amsterdam entdeckte ich eine Gruppe Aschkenaser Juden, die gerade die Taschlich -Zeremonie abhielten. Ich war gerade auf der Trekschuit , sprang aber schnell von Bord, folgte ihnen, wurde begrüßt, und eine ältere Frau namens Rifke gab mir ein Stück Brot. Ich weiß nicht, warum ich mich noch immer an ihren Namen erinnere. Ich lauschte der Zeremonie, spürte, wie eine angenehme Wärme in mir aufstieg, und fühlte mich seltsamerweise zu dieser Gemeinschaft hingezogen. Statt Rifkes Brot ins

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