Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
paar hingeworfene Zeilen eines holperigen Gedichts auf einem Blatt Papier in Gefahr bringen. Aller Wahrscheinlichkeit nach gehörte es gar nicht dem Museum und wurde von einem Wärter aufgehängt.«
Die beiden Holländer saßen niedergeschlagen in der Küche des Wärters. Bierens de Haan stützte den Kopf in die Hände und stöhnte: »Wir haben das, was uns anvertraut war, verraten. Wir waren die Hüter der Bücher.«
»Sie hatten keine andere Wahl«, sagte Egmond. »Zuerst hätten sie das Museum auseinandergenommen und dann dieses Haus. Dann hätten sie nicht nur die Bücher, sondern auch sie gefunden.«
Bieren de Haan stöhnte immer noch.
»Was hätte Spinoza gemacht?«, fragte der Wärter.
»Ich kann mir nur vorstellen, dass er den Weg der Tugend gewählt hätte. Wenn es eine Wahl zwischen der Rettung wertvoller Gegenstände und der Rettung eines Menschen gibt, dann müssen wir die Menschen retten.«
»Ja, Sie haben Recht. Nun, sie sind fort. Soll ich ihr sagen, dass jetzt alles vorüber ist?«
Bierens de Haan nickte. Egmond ging nach oben und klopfte im Schlafzimmer mit einer langen Stange drei Mal an eine Stelle der Zimmerdecke. Ein paar Minuten später öffnete sich die Falltür, eine Leiter fiel herab, und eine verängstigte jüdische Frau mittleren Alters, Selma de Vries-Cohen, stieg herunter.
»Selma«, sagte Egmond, »Sie können aufatmen. Sie sind weg. Sie haben alles an Wert mitgenommen und werden sich jetzt daran machen, den Rest unseres Landes auszuplündern.«
»Warum waren sie hier? Was wollten sie?«, fragte Selma.
»Wegen Spinozas Bibliothek. Ich habe keine Ahnung, warum sie ihnen so wichtig war. Es ist mir vollkommen schleierhaft. Sie hätten sich ohne Schwierigkeiten einen der Dutzende Rembrandts im Rijksmuseum in Amsterdam unter den Nagel reißen können, der weitaus mehr wert gewesen wäre als alle diese Bücher zusammen. Aber ich habe etwas für Sie. Ein Buch haben sie übersehen. Es gab ein einziges Buch von Spinoza in holländischer Übersetzung. Es heißt Ethik, und ich habe es getrennt von den anderen bei mir zu Hause verwahrt. Sie wussten nichts von diesem Buch, und ich werde es Ihnen morgen bringen. Es könnte interessanter Lesestoff für Sie sein – es ist sein Hauptwerk.«
»Eine holländische Übersetzung? Ich dachte immer, er wäre Holländer gewesen.«
»Das stimmt auch, aber zur damaligen Zeit schrieben alle Wissenschaftler auf Latein.«
»Bin ich jetzt in Sicherheit?«, fragte Selma, die immer noch sichtlich zitterte. »Ist es sicher, meine Mutter herzubringen? Und sind Sie selbst sicher?«
»Niemand ist vollkommen sicher, solange diese Bestien losgelassen sind. Aber Sie sind in der sichersten Stadt von ganz Holland.
Sie haben die Türen und Fenster des Museums mit Klebeband versiegelt, sie haben die Spinoza-Gesellschaft abgeschafft, und die deutsche Regierung hat Anspruch auf dieses Haus angemeldet. Aber ich bezweifle stark, dass sie jemals in dieses leere Museum zurückkommen werden. Hier gibt es sonst nichts, was für sie wichtig wäre. Aber um sicher zu gehen, würde ich Sie trotzdem gern einen Monat lang woanders unterbringen. Mehrere Familien in Rijnsburg haben sich bereit erklärt, Sie zu verstecken. Sie haben viele Freunde in Rijnsburg. In der Zwischenzeit werde ich eine Toilette in Ihrem Zimmer einbauen, bevor Ihre Mutter nächsten Monat eintrifft.«
Als die Bücher in Berlin ankamen, befahl Alfred seinen Männern, sie augenblicklich in sein Büro nach Hause zu schaffen. Am nächsten Morgen ging er mit der Kaffeetasse in der Hand in sein Büro, setzte sich und starrte die Bücher an. Er wollte nur in dem Anblick und dem Duft dieser kostbaren Werke schwelgen – dieser Bücher, welche Spinoza persönlich in Händen gehalten hatte. Stundenlang strich er zärtlich über die Bücher und las die Titel. Einige Autoren waren ihm vertraut – Vergil, Homer, Ovid, Cäsar, Aristoteles, Tacitus, Petrarca, Plinius, Cicero, Livius, Horaz, Epiktet, Seneca und ein fünfbändiges Werk von Machiavelli. Ach , klagte er, wäre ich nur aufs Gymnasium gegangen . Dann hätte ich alle lesen können. Kein Latein, kein Griechisch – die Tragödie meines Lebens. Und dann wurde ihm urplötzlich bewusst, dass es kein einziges Buch gab, das er hätte lesen können: Keines davon war auf Deutsch oder Russisch geschrieben. Es gab zwar auch den Discours de la Méthode von Descartes, aber Alfreds Französisch war ausgesprochen dürftig.
Und die meisten Titel kannte er überhaupt nicht:
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