Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
daraus zu schließen, dass wir Menschen sie brauchen.«
» Ich brauche das nicht. Kinder brauchen Dinge, die Erwachsene nicht brauchen. Der Mensch von vor zweitausend Jahren brauchte Dinge, die der Mensch von heute nicht mehr braucht. Ich glaube, dass der Grund für Aberglauben in all diesen Kulturen darin liegt, dass der antike Mensch die geheimnisvolle Launenhaftigkeit des Daseins fürchtete. Ihm fehlte das Wissen, das ihm vielleicht das Einzige geben konnte, was er am dringendsten brauchte – Erklärungen. Und in jenen frühen Tagen griff er nach der einzigen verfügbaren Form von Erklärung – nach dem Übernatürlichen, mit Gebeten und Opfern und koscheren Gesetzen und …«
»Und? Nur weiter, Bento – welcher Funktion dienen Erklärungen?«
»Erklärungen beruhigen. Sie erlösen einen vom Leid der Unsicherheit. Der Mensch der Antike wollte fortbestehen, hatte Furcht vor dem Tod, war vielem in seiner Umgebung hilflos ausgeliefert, und Erklärung vermittelte das Gefühl oder wenigstens die Illusion einer Kontrolle. Er kam zu folgendem Schluss: Wenn alles, was passiert, übernatürliche Ursachen hat, dann kann vielleicht ein Weg gefunden werden, das Übernatürliche zu besänftigen.«
»Bento, es ist nicht so, dass wir uns insoweit nicht einig wären; es ist nur so, dass sich unsere Methoden unterscheiden. Jahrhundertealtes Denken zu ändern ist ein langsamer Vorgang. Sie können nicht alles auf einmal erreichen. Ein Wandel, selbst von innen her, muss langsam geschehen.«
»Ich bin sicher, dass Sie Recht haben, aber ich bin auch sicher, dass vieles von dieser Langsamkeit daher kommt, dass alternde Rabbiner und Priester sich hartnäckig an die Macht klammern. Das war bei Rabbi Mortera so, und das ist heute bei Rabbi Aboab so. Als Sie mir vorhin erzählten, wie er die Flammen des Glaubens an Sabbatai Zevi schürte, schüttelte es mich. Ich habe meine ganze Jugend unter den Abergläubischen verbracht; gleichwohl entsetzt mich diese Zevi-Hysterie. Wie können Juden an einen solchen Unsinn glauben? Es scheint unmöglich, die Irrationalität ihrer Unvernunft zu überschätzen. Mit jedem Wimpernschlag wird irgendwo auf der Welt ein Narr geboren.«
Franco biss in das letzte Stück seines Apfels, lächelte und fragte: »Bento, dürfte ich eine Franco-Beobachtung machen?«
»Ah, jetzt kommt mein Nachtisch! Was könnte besser sein! Warten Sie, ich will mich darauf vorbereiten.« Bento lehnte sich zurück und machte es sich auf dem Polsterkissen bequem. »Ich glaube, dass ich gleich etwas über mich selbst lernen werde.«
»Sie sagten, dass wir uns von der Fessel der Leidenschaft befreien sollten, doch heute ging Ihre Leidenschaft mehrmals mit Ihnen durch. Obwohl Sie einem Mann ganz und gar vergeben haben, der versuchte, Sie zu töten, reagieren Sie auf Rabbi Aboab voller Leidenschaft und auch auf diejenigen, die dem neuen Messias folgen wollen.«
Bento nickte: »Ja, das ist richtig.«
»Ich gehe noch weiter – Sie zeigten auch mehr Verständnis für den jüdischen Attentäter als für die Ansichten meiner Frau. Stimmt das nicht?«
Bento nickte abermals, diesmal vorsichtiger. »Fahren Sie fort, mein Lehrmeister.«
»Einmal sagten Sie zu mir, dass menschliche Emotionen genauso wie Linien, Flächen und Körper verstanden werden könnten, richtig?«
Abermaliges Nicken.
»Wollen wir dann versuchen, eben dieses Prinzip auf Ihre scharfzüngige Reaktion auf Rabbi Aboab und auf die leichtgläubigen Jünger Sabbatai Zevis anzuwenden? Und auf meine Frau Sarah?«
Bento machte ein fragendes Gesicht. »Worauf wollen Sie hinaus, Franco?«
»Ich bitte Sie, Ihre Instrumente des Verstehens bei Ihren eigenen Gefühlen anzuwenden. Denken Sie an Ihre Worte, als ich so außer mir über den Attentäter war. ›Alles, jede Tatsache‹, sagten Sie, ›hat ohne Ausnahme eine Ursache, und wir müssen verstehen, dass alles notwendigerweise eintritt.‹ Habe ich das richtig formuliert?«
»Ihr Erinnerungsvermögen ist ohne jeden Makel, Franco.«
»Danke. Dann wollen wir heute die gleiche, vernünftige Schlussfolgerung anwenden.«
»Sie wissen, dass ich diese Einladung nicht ablehnen kann, während ich gleichzeitig behaupte, dass der Sinn und Zweck meines Daseins im Streben nach Vernunft liegt.«
»Gut. Erinnern Sie sich an die Moral der Geschichte im Talmud über Rabbi Yohanan?«
Bento nickte. »Der Gefangene kann sich nicht selbst befreien. Zweifellos wollen Sie darauf hinaus, dass ich zwar andere befreien kann, aber nicht mich
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