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Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)

Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)

Titel: Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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todernster kleiner Junge … manchmal trug ich dich huckepack herum … ich glaube, du mochtest es … aber du bist immer schnell wieder heruntergesprungen … War es nicht richtig, Spaß zu haben? … Das Haus erschien mir kalt … mutterlos … Vater abwesend, depressiv … du und Eugen, ihr habt nie gesprochen … wo waren eure Freunde? … ich sah nie Freunde bei euch zu Hause … du warst ängstlich … ranntest in dein Zimmer … schlossest die Tür, ranntest immer zu deinen Büchern …«
    Friedrich hielt inne, öffnete die Augen, trank einen großen Schluck Bier und richtete den Blick auf Alfred: »Das alles fließt aus dem Speicher meiner Erinnerungen an dich – vielleicht taucht später noch mehr davon auf. Ist es das, was du wolltest, Alfred? Ich möchte mir sicher sein. Ich möchte dem Bruder meines besten Freundes das geben, was er möchte und braucht.«
    Alfred nickte und drehte dann schnell den Kopf zur Seite. Seine Verblüffung war ihm peinlich: Noch nie hatte er jemanden so sprechen hören. Obwohl Friedrichs Worte deutsch waren, war Friedrichs Sprache eine fremde.
    »Dann will ich fortfahren und Eugens Bemerkungen über dich hervorkramen.« Friedrich schloss abermals die Augen und sprach einen Augenblick später mit der gleichen, entrückten Stimme: »Eugen, sprich mit mir über Alfred.« Dann wechselte Friedrich wieder zu einer anderen Stimme, die nun möglicherweise Eugens Stimme sein sollte.
    »Ah … mein schüchterner, ängstlicher Bruder, ein begnadeter Künstler – alle Begabungen der Familie konzentrierten sich auf ihn – ich war vernarrt in seine Zeichnungen von Reval – der Hafen und all die Schiffe vor Anker, das teutonische Schloss mit seinem hoch aufragenden Turm – selbst in den Augen von Erwachsenen waren es vollkommene Zeichnungen, dabei war er erst zehn. Mein kleiner Bruder – immer mit der Nase in den Büchern – armer Alfred – ein Einzelgänger … so viel Angst vor anderen Kindern … nicht beliebt – die Jungen verspotteten ihn, nannten ihn ›den Philosophen‹ – nicht viel Liebe für ihn – unsere Mutter tot, unser Vater todkrank, unsere Tanten gutherzig, aber ständig mit ihren eigenen Familien beschäftigt – ich hätte mehr für ihn tun sollen, aber es war schwer, an ihn heranzukommen … und ich musste selbst sehen, wie ich meinen Hunger stillen konnte.«
    Friedrich öffnete die Augen, blinzelte ein, zwei Mal und sagte dann mit seiner eigenen Stimme: »Daran erinnere ich mich. Ach ja, dann gab es da noch etwas, Alfred, und ich erzähle es dir mit gemischten Gefühlen: Eugen gab dir die Schuld am Tod eurer Mutter.«
    »Mir die Schuld? Mir? Ich war doch erst ein paar Wochen alt.«
    »Wenn jemand stirbt, suchen wir oft nach irgendetwas, nach irgendwem, dem wir die Schuld zuschieben können.«
    »Das kann nicht dein Ernst sein. Oder? Ich meine, hat Eugen das wirklich gesagt? Das ergibt doch keinen Sinn.«
    »Wir glauben oft, dass etwas keinen Sinn macht. Natürlich hast du sie nicht umgebracht, aber ich kann mir vorstellen, dass der Gedanke Eugen nicht loslässt, dass seine Mutter noch leben könnte, wenn sie nicht mit dir schwanger geworden wäre. Aber das ist nur eine Vermutung, Alfred. Ich kann mich nicht mehr an die genauen Worte erinnern, aber ich weiß bestimmt, dass er eine Abneigung gegen dich hegte, die er selbst als irrational bezeichnete.«
    Alfred, der aschfahl geworden war, blieb mehrere Minuten lang stumm sitzen. Friedrich sah ihn an, trank sein Bier und sagte sanft: »Ich fürchte, ich habe vielleicht zu viel gesagt. Aber wenn ein Freund fragt, versuche ich, alles zu geben, was ich kann.«
    »Und das ist auch gut so. Gründlichkeit, Aufrichtigkeit – gute, edle deutsche Tugenden. Das lobe ich mir, Friedrich. Und so vieles davon klingt richtig. Ich muss zugeben, dass ich mich manchmal frage, warum Eugen nicht mehr für mich getan hat. Und diese Spötteleien, ›kleiner Philosoph‹ – wie oft musste ich mir das von den anderen Jungen anhören! Ich glaube, das hat mich stark beeinflusst, und schließlich habe ich mich an allen dadurch gerächt, dass ich tatsächlich ein Philosoph wurde.«
    »Am Polytechnikum? Wie ist das möglich?«
    »Nun, nicht gerade ein studierter Philosoph – ich habe ein Diplom für Ingenieurwesen und Architektur, aber meine wahre Heimat war die Philosophie, und selbst am Polytechnikum fand ich einige Professoren vom Fach, die mich bei meinem Selbststudium begleitet haben. Mehr als alles andere verehre ich inzwischen die

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