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Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)

Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)

Titel: Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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Schwindsucht: Ihre wohlhabende Familie lehnt mich und meine Armut ganz und gar ab, und ich bin sicher, dass unsere sehr kurze Ehe damit zu Ende ist. Wir haben nur wenig Zeit miteinander verbracht, und wir korrespondieren auch kaum noch miteinander.«
    Alfred trank hastig einen Schluck Bier und fuhr dann fort: »Als ich gestern hier eintraf, hatte ich den Eindruck, als freuten sich meine Tanten, Onkel, Nichten und Neffen, mich zu sehen, und ihr herzlicher Empfang tat mir gut. Ich hatte das Gefühl, als gehörte ich dazu. Aber das hielt nicht lange an. Als ich heute Morgen aufwachte, kam ich mir abermals fremd und heimatlos vor. Ich ging durch die Stadt auf der Suche nach … ja was? Vermutlich nach einem Zuhause, nach Freunden, vielleicht auch nur nach irgendwelchen bekannten Gesichtern. Aber ich sah nur Fremde. Sogar in der Realschule traf ich niemanden, den ich kannte, nur meinen Lieblingslehrer, den Kunstlehrer, und der hat nur so getan, als hätte er mich wiedererkannt. Und vor weniger als einer Stunde hat man mir dann den Todesstoß versetzt: Ich beschloss, dorthin zu gehen, wohin ich wirklich gehöre. Ich wollte nicht mehr im Exil leben, sondern wieder mit meiner Rasse zusammenleben und ins Vaterland zurückkehren. Ich wollte mich der deutschen Reichswehr anschließen und ging deshalb zum Hauptquartier der deutschen Armee auf der Straßenseite gegenüber. Dort hat mich der für die Einberufung zuständige Unteroffizier, ein Jude namens Goldberg, wie ein lästiges Insekt verscheucht. Er entließ mich mit den Worten, dass die deutschen Streitkräfte für Deutsche da sind und nicht für Bürger kriegsbeteiligter Nationen.«
    Friedrich nickte verständnisvoll. »Vielleicht war dieser Todesstoß ja ein Segen für dich. Vielleicht hattest du das Glück der Begnadigung vor einem sinnlosen Tod in den morastigen Schützengräben.«
    »Du sagtest, dass ich ein seltsam ernstes Kind war. Ich glaube, dass ich das immer noch bin. Beispielsweise nehme ich meinen Kant ernst: Ich betrachte es als moralischen Imperativ, mich freiwillig zu melden. Was würde wohl aus unserer Welt werden, wenn alle das tödlich verwundete Vaterland im Stich ließen? Wenn es ruft, müssen seine Söhne gehorchen.«
    »Ist es nicht seltsam«, sagte Friedrich, »dass wir baltische Deutsche so viel deutscher sind als die Deutschen? Vielleicht haben wir alle, die wir vertriebene Deutsche sind, diese gleiche, starke Sehnsucht, von der du sprichst – die Sehnsucht nach Heimat, nach einem Platz, wo wir wirklich hingehören. Wir baltische Deutsche sind besonders schwer von der Seuche der Wurzellosigkeit betroffen. Das spüre ich in diesem Augenblick besonders stark, weil mein Vater Anfang dieser Woche gestorben ist. Deshalb bin ich in Reval. Und nun weiß ich auch nicht, wohin ich gehöre. Meine Großeltern mütterlicherseits sind Schweizer, aber dorthin gehöre ich auch nicht wirklich.«
    »Mein herzliches Beileid«, sagte Alfred.
    »Danke. In vieler Hinsicht hatte ich es leichter als du: Mein Vater war fast achtzig, und er war mein ganzes Leben lang immer für mich da. Und meine Mutter lebt noch: Im Augenblick helfe ich ihr gerade beim Umzug zu meiner Schwester. Eigentlich bin ich nur kurz ausgebüxt, während sie ein Nickerchen macht, und ich muss bald wieder zu ihr zurück. Aber bevor ich gehe, möchte ich dir sagen, dass das Thema Heimat wichtig und drängend für dich ist. Ich kann noch ein wenig länger bleiben, wenn du das noch weiter erforschen möchtest.«
    »Ich weiß nicht, wie ich es erforschen soll. Ich bin wirklich verblüfft über deine Gabe, mit einer derartigen Leichtigkeit über tiefgreifende, persönliche Dinge zu sprechen. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der seine innersten Gedanken so offen ausspricht wie du.«
    »Soll ich dir dabei helfen?«
    »Wie meinst du das?«
    »Ich meine damit, dass ich dir helfen möchte, deine Gefühle hinsichtlich der Heimat zu identifizieren und zu verstehen.«
    Alfred machte ein misstrauisches Gesicht, aber nach einem ausgiebigen Schluck seines estnischen Bieres stimmte er zu.
    »Versuche es einmal so: Mach genau das, was ich gemacht habe, als ich meine Erinnerungen an dich als Kind hervorgekramt habe. Und jetzt mein Vorschlag: Denk an die Worte ›nicht zu Hause‹ und sag sie dir mehrmals vor: ›Nicht zu Hause‹, ›nicht zu Hause‹, nicht zu Hause.‹«
    Alfreds Lippen formten ein, zwei Minuten lang lautlos diese Worte, und dann schüttelte er den Kopf. »Es kommt nichts. Mein Kopf

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