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Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)

Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)

Titel: Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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deutsche Klarheit des Denkens. Es ist meine einzige Religion. Und doch bin ich jetzt, in diesem Augenblick, in einer ziemlich verfahrenen Gemütsverfassung. Ich bin wie benommen. Vielleicht brauche ich einfach Zeit, um das alles in mich aufzunehmen, was du gesagt hast.«
    »Alfred, ich glaube, ich kann erklären, was du fühlst. So etwas habe ich selbst erlebt, und ich habe es auch bei anderen gesehen. Du reagierst nicht auf die Erinnerungen, von denen ich dir erzählte. Es ist etwas anderes. Ich kann es vielleicht am besten auf philosophische Art und Weise erklären. Ich habe ebenfalls eine gründliche philosophische Ausbildung hinter mir, und es ist mir eine Freude, mit jemandem zu sprechen, der eine ähnliche Neigung hat.«
    »Für mich wäre es auch eine Freude. Seit Jahren habe ich nur mit Ingenieuren zu tun, und nun sehne ich mich nach einem philosophischen Gespräch.«
    »Gut, gut. Dann lass mich folgendermaßen beginnen: Denke an das Entsetzen und das Kopfschütteln angesichts Kants Enthüllung, dass die äußere Realität nicht so ist, wie wir sie gewöhnlich wahrnehmen – das heißt, wir konstituieren das Wesen der äußeren Realität kraft unserer inneren, geistigen Konstrukte. Du bist mit Kant vertraut, nehme ich an?«
    »Ja, sehr vertraut. Aber seine Relevanz für meine derzeitige Gemütsverfassung ist …?«
    »Nun, was ich meine, ist, dass deine Welt plötzlich – und nun beziehe ich mich auf deine interne Welt, die so sehr auf deinen vergangenen Erlebnissen gründet – nicht so ist, wie du glaubtest, dass sie sei . Oder anders ausgedrückt – hier möchte ich einen Begriff von Husserl verwenden – sage ich, dass dein Noema explodiert ist.«
    »Husserl? Ich meide jüdische Pseudo-Philosophen. Und was ist ein Noema ?«
    »Alfred, ich rate dir, Edmund Husserl nicht links liegen zu lassen: Er ist einer von den Großen. Sein Begriff Noema bezieht sich auf das Ding, so wie wir es erleben, das Ding, wie es von uns strukturiert wurde. Stell dir zum Beispiel ein Gebäude vor. Und dann stell dir vor, dass du dich an ein Gebäude anlehnst und feststellst, dass das Gebäude nicht massiv ist und dass dein Körper direkt hindurchgeht. In diesem Moment explodiert dein Noema von einem Gebäude – deine Lebenswelt ist auf einmal nicht mehr so, wie du glaubtest, dass sie sei.«
    »Ich respektiere deinen Rat. Aber bitte erkläre es mir näher – ich verstehe das Konzept einer Struktur, die wir der Welt aufdrängen, aber ich bin immer noch verwirrt über die Relevanz für Eugen und mich.«
    »Nun, was ich sage, ist, dass deine Ansicht über die lebenslange Beziehung, die du zu deinem Bruder hattest, sich mit einem Paukenschlag verändert hat. Du hattest ein bestimmtes Bild von ihm, und plötzlich verschiebt sich die Vergangenheit nur um ein kleines Stück, und nun stellst du fest, dass er dir manchmal mit Ressentiments begegnete, selbst wenn diese Ressentiments natürlich irrational und unfair waren.«
    »Du sagst also, dass ich mich deshalb benommen fühle, weil sich der feste Boden meiner Vergangenheit verschoben hat?«
    »Ganz genau. Gut formuliert, Alfred. Dein Kopf ist überlastet, weil er ganz und gar damit beschäftigt ist, die Vergangenheit wiederherzustellen, und er hat nicht die Kapazität, seine normalen Tätigkeiten zu verrichten – wie etwa für dein Gleichgewicht zu sorgen.«
    Alfred nickte. »Friedrich, das ist eine wirklich erstaunliche Unterhaltung. Du gibst mir eine Menge nachzudenken. Aber ich darf darauf hinweisen, dass ich diese Benommenheit zum Teil auch schon vor unserem Gespräch gespürt habe.«
    Friedrich wartete gelassen, wartete ab. Offenbar wusste er zu warten.
    Alfred zögerte: »Normalerweise gebe ich nicht so viel von mir preis. Eigentlich spreche ich kaum mit jemandem über mich, aber du hast etwas an dir, das ausgesprochen – wie soll ich sagen – vertrauenserweckend, einladend ist.«
    »Nun, gewissermaßen gehöre ich zur Familie. Und natürlich weißt du, dass du mit alten Freunden nicht neu Freundschaft schließen kannst.«
    »Mit alten Freunden nicht neu Freundschaft …« Alfred überlegte einen Augenblick und lächelte dann: »Ich verstehe. Sehr schlau. Nun, mein Tag begann damit, dass ich das Gefühl hatte, hier fremd zu sein – ich bin erst gestern aus Moskau zurückgekommen. Ich bin jetzt allein. Ich war kurz verheiratet – meine Frau hat Schwindsucht, und ihr Vater hat sie vor ein paar Wochen in ein Sanatorium in die Schweiz geschickt. Aber es ist nicht nur die

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