Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
Mitgliedschaft bei der Thule-Gesellschaft zur Verfügung und begleitete ihn zu dessen erster Versammlung dieses illustren Geheimbundes.
Nachdem Eckart Alfred mit mehreren Mitgliedern bekannt gemacht hatte, ließ er ihn allein, um sich mit mehreren Kollegen zu vertraulichen Gesprächen zurückzuziehen. Alfred schaute sich um. Dies war eine neue Welt – kein Bierkeller, sondern ein nobler Versammlungsraum im prächtigen Münchner Hotel Vier Jahreszeiten . Nie zuvor war er in einem solchen Saal gewesen. Er prüfte die flauschige Dicke des roten Teppichs unter seinen abgewetzten Schuhen und hob den Blick zur reich verzierten Decke, auf der sich Schäfchenwolken und pausbäckige Engel tummelten. Weit und breit war kein Bier in Sicht, also ging er zum Tisch in der Saalmitte und schenkte sich ein Glas süßen, deutschen Wein ein. Als er die anderen Mitglieder beobachtete, es waren vielleicht einhundertfünfzig, allesamt augenscheinlich wohlhabende, gutgekleidete, übergewichtige Männer, schämte er sich plötzlich seiner eigenen Kleidung, die er Stück für Stück in einem Gebrauchtkleiderladen erstanden hatte.
Wohl wissend, dass er offensichtlich der ärmste und schäbigste Mann im Saal war, bemühte er sich redlich, sich möglichst unauffällig unter seine Thule-Mitbrüder zu mischen. Er versuchte sogar, sich von ihnen abzuheben, indem er sich bei jeder passenden Gelegenheit als philosophischen Schriftsteller bezeichnete. Wenn er allein herumstand, übte er eifrig einen neuen Gesichtsausdruck: Er kräuselte leicht die Lippen, nickte kaum wahrnehmbar und schloss die Augen, womit er vermitteln wollte: »Ja, ich weiß genau, was Sie meinen – ich bin nicht nur im Bilde, sondern weiß sogar noch mehr, als Sie glauben.« Am späteren Abend prüfte er diesen Gesichtsausdruck im Spiegel der Herrentoilette und war zufrieden. Diese Miene sollte bald zu seinem Markenzeichen werden.
»Hallo! Sie sind Dietrich Eckarts Gast?«, fragte ein Mann mit durchdringendem Blick, langem Gesicht, Schnurrbart und dunkel gerahmter Brille. »Ich bin Anton Drexler. Ich bin Mitglied des Begrüßungskomitees.«
»Ja, Rosenberg, Alfred Rosenberg. Ich bin Schriftsteller und Philosoph bei Auf gut Deutsch , und ja, ich bin Dietrich Eckarts Gast.«
»Er hat mir schon viel Gutes über Sie erzählt. Sie sind ja heute zum ersten Mal da und haben bestimmt Fragen. Was darf ich Ihnen über unsere Organisation erzählen?«
»Alles Mögliche. Vor allem interessiert mich der Name ›Thule‹.«
»Um das zu beantworten, sollte ich vielleicht damit beginnen, dass unser ursprünglicher Name Studiengruppe für germanisches Altertum war. Thule, so glauben viele, war eine Landmasse, die es nicht mehr gibt – vermutlich in der Nähe von Island oder Grönland –, und die ursprüngliche Heimat der arischen Rasse.«
»Thule … ich kenne meine arische Vergangenheit sehr gut von Houston Stewart Chamberlain, aber ich erinnere mich nicht, dass irgendwo von Thule die Rede war.«
»Ach, Chamberlain ist Historiker und dazu noch einer unserer besten, aber hier geht es um Vor-Chamberlain und um Prähistorie. Um das Reich der Mythen. Unsere Organisation möchte unseren edlen Vorfahren, die wir nur durch mündliche Überlieferung kennen, ihre Reverenz erweisen.«
»Dann kommen alle diese eindrucksvollen Männer heute also zusammen, weil sie an Mythen und an Prähistorie interessiert sind? Nicht, dass ich das in Frage stelle – ich finde es im Gegenteil bewundernswert, eine solche Ruhe und akademische Hingabe zu sehen, und das in einer so unsteten Zeit, in der Deutschland jederzeit auseinanderbrechen kann.«
»Die Versammlung hat ja noch gar nicht begonnen, Herr Rosenberg. Sie werden noch früh genug erfahren, weshalb die Thule-Gesellschaft Ihre Artikel in Auf gut Deutsch so sehr schätzt. Ja, wir sind an der Frühgeschichte sehr interessiert. Aber noch mehr an unserer Nachkriegsgeschichte, einer Geschichte, die gerade jetzt geschrieben wird und über die unsere Kinder und Enkel eines Tages lesen werden.«
Alfred war von den Reden begeistert. Ein Vortragender nach dem anderen warnte vor der ernsten Gefahr, die Deutschland von den Bolschewisten und Juden drohte. Jeder Redner betonte die dringende Notwendigkeit zu handeln. Gegen Ende des Abends legte Eckart, leicht berauscht von einem unablässigen Strom deutschen Weines, Alfred den Arm auf die Schulter und rief: »Eine aufregende Zeit, was, Rosenberg? Und es wird noch aufregender. Nachrichten zu schreiben, Gesinnungen
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