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Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)

Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)

Titel: Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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uns befohlen hat, die Tefillin zu beachten.)
    Und zum Entzücken seines Vaters wiederholte Bento das Gebet abermals Wort für Wort.
    »Als Nächstes legst du die beiden hängenden Rosh -Riemen vor deine Schultern und passt auf, dass die geschwärzten Seiten nach außen zeigen und der linke Riemen genau bis hierher reicht …« Sein Vater legte einen Finger auf Bentos Bauchnabel und kitzelte ihn. »Und du musst darauf achten, dass der rechte Riemen ein paar Zentimeter tiefer liegt – genau an deinem kleinen Wasserspeier.
    Nun aber zurück zum Tefillin shel yad : Binde es um deinen Mittelfinger und wickle es drei Mal herum. Siehst du, wie ich das mache? Dann wickle es um deine Hand. Siehst du, dass es an meinem Mittelfinger wie der Buchstabe shin aussieht? Ich weiß, das ist schwierig zu sehen. Wofür steht shin ?«
    » Shin ist der erste Buchstabe von Shaddai (der Allmächtige).«
    Bento erinnerte sich an ein ungewöhnliches Gefühl der Ruhe, das sich einstellte, wenn er die Lederriemen um Kopf und Arme band. Das Gefühl der Einengung, das Binden, erfüllte ihn mit großer Befriedigung, und er fühlte sich fast verflochten mit seinem Vater, der auf gleiche Weise von den Lederriemen gebunden war.
    Sein Vater schloss die Lektion ab: »Bento, ich weiß, dass du keinen dieser Handgriffe vergessen wirst, doch musst du dich hüten, Tefillin anzulegen, bevor du vor deiner Bar Mitzwa eine formelle Einweisung bekommen hast. Und nach deiner Bar Mitzwa wirst du an jedem Morgen für den Rest deines Lebens Tefillin anlegen, außer …?«
    »Außer an Feiertagen und am Sabbat.«
    »Ja.« Sein Vater küsste ihn auf die Wangen. »Genau wie ich, genau wie alle Juden.«
    Bento ließ das Bild seines Vaters verblassen, kehrte zur Gegenwart zurück, betrachtete die bizarren, kleinen Kästchen und verspürte einen Stich, denn er würde niemals wieder Tefillin anlegen, niemals wieder dieses angenehme Gefühl der Einengung spüren. War er ehrlos, weil er dem Wunsch seines Vaters nicht entsprach? Er schüttelte den Kopf. Sein Vater, gesegnet sei sein Name, stammte aus einer Zeit, die von Aberglauben beherrscht war. Bento warf abermals einen Blick auf die rätselhaft verhedderten Rosh- und Yad -Riemen und wusste, dass er die für sich richtige Entscheidung getroffen hatte. Aber was sollte er mit dem Geschenk seines Vaters, mit seinen Tefillin anstellen? Er konnte sie nicht einfach zurücklassen; dann würde Gabriel sie finden. Er würde sie mitnehmen müssen und sich ihrer später entledigen. Für den Augenblick legte er die kleinen Kästchen in seine Tasche neben das Rasiermesser und die Seife, dann setzte er sich hin und begann, einen langen, liebevollen Brief an Gabriel zu schreiben.
    Erst nachdem er fast fertig war, erkannte Bento seine Torheit. Inzwischen hatte man Gabriel und mit ihm der gesamten Gemeinde wegen des Cherem sicherlich schon verboten, irgendetwas zu lesen, was er geschrieben hatte. Bento zerriss seinen Brief, um seinem Bruder nicht noch mehr Kummer zu bereiten, und verfasste schnell eine wenige Zeilen lange Nachricht mit wichtigen Informationen, die er auf den Küchentisch legte:
    »Ach, Gabriel, ein paar letzte Worte: Ich habe das Bett mitgenommen, das Vater mir in seinem letzten Willen hinterlassen hat, und auch meine Kleider, die Seife und die Bücher. Alles andere überlasse ich dir, auch unser ganzes Geschäft – so armselig es sein mag.«
    Bento wusste, dass der Lastkahn wegen der vielen Zwischenstationen zwei Stunden bis zum Haus van den Endens brauchen würde. Zu Fuß konnte er die Strecke in einer halben Stunde bewältigen. Er hatte also noch Zeit, um ein letztes Mal durch die Straßen des jüdischen Viertels zu schlendern, in welchem er sein ganzes Leben verbracht hatte. Er ließ seine Tasche stehen und machte sich ziemlich gelassen mit forschen Schritten auf den Weg. Aber schon bald machte sich ein Gefühl von Beklommenheit breit, als er durch die schaurig ruhigen Straßen ging, die ihn daran erinnerten, dass fast alle, die er kannte, in diesem Augenblick in der Synagoge waren und zuhörten, wie Rabbi Mortera den Namen Baruch Spinoza verfluchte und ihnen befahl, ihn für alle Zeiten zu verstoßen. Bento stellte sich vor, wie es wohl gewesen wäre, hätte er diesen Spaziergang am folgenden Morgen unternommen: Alle würden seinen Blick meiden, und die Menschen auf den Straßen würden vor ihm zurückweichen, als wollten sie einem Leprakranken Platz machen.
    Obwohl er sich monatelang auf diesen Augenblick

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