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Das spröde Licht: Roman (German Edition)

Das spröde Licht: Roman (German Edition)

Titel: Das spröde Licht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás González
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der Netzhaut aus und deckt ungefähr 35 Prozent des Gesichtsfelds ab. Die restlichen 65 Prozent, das heißt der periphere Bereich, sind von der Krankheit nicht betroffen. Die Lupe hilft, die Schädigung der Makula zu einem gewissen Grad auszugleichen, denn durch sie wird der gesunde periphere Bereich der Netzhaut zum Erstellen von Bildern gefordert. Wenn ich dann wieder aufstehe, gehe ich, bevor ich weiterschreibe, in den Garten hinaus, um die Pflanzen und die Bäume anzuschauen.
    Der Garten hinter dem Haus, in dem ich wohne, ist ungefähr sechshundert Quadratmeter groß, und dort gibt es – da ich gerade davon gesprochen habe – eine Unmenge zum Anschauen. Was Sara da gepflanzt und gepflegt hat, ist überwältigend. Der Garten ist voll von den verschiedensten Palmen, Bananenstauden, Zitrusbäumen und allen möglichen Helikonien, Farnen und Orchideen. Sie ist zu einer wahren Gartenkünstlerin geworden, meine Sara, hier in La Mesa de Juan Díaz, und über zehn Jahre lang war ich ihr Publikum und der hingerissene Maler ihrer lebenden Kunstwerke. Jetzt hält Ángelas Mann den Garten in Ordnung, und soweit ich noch sehen kann, macht er das gut, aber es ist keine Bewegung mehr da, es gibt keine Entwicklung und keine Veränderungen mehr, keine neuen Steine, auf denen sich Moos ausbreitete, keine neuen Seerosen und andere Wasserpflanzen in den Teichen, keine neuen seltenen Pflanzen, die Sara irgendwo entdeckt hatte und die ganz plötzlich zur Blüte kamen, wie ein Feuerwerk …
    Wenn ich an all das denke und Saras Abwesenheit spüre und die Kälte, die ihre Abwesenheit erzeugt, die unvermeidliche Einsamkeit des Alters, dann muss ich mich eine Weile hinlegen, für ein paar Minuten die Seele abstellen, als würde ich eine Kerze ausblasen, und schlafen.

neun
    Ich unterbrach Sara kurz, um ihr zu sagen, ich würde rausgehen und in etwa zwei Stunden zurück sein, und dass sie mich anrufen solle, wenn etwas sei. Sie sagte, in Ordnung, ich solle nur gehen, es werde mir guttun, ich solle aber nicht zu lange wegbleiben. Ich küsste sie, und sie setzte das Telefongespräch mit den Kindern fort. Mit den Jungen. Ich ging die Houston Street hinunter und nahm den Subway nach Coney Island. Ich fand die Dunkelheit im Tunnel entsetzlich, den Wagen entsetzlich, die ein- und aussteigenden Leute entsetzlich, also starrte ich einfach nur auf den Boden, um niemanden sehen zu müssen, bis die Stunde um war und ich in Brighton Beach ausstieg. Ohne auf etwas oder jemanden zu schauen, ging ich durchs russische Viertel, und ohne auf jemanden zu schauen, gelangte ich zum Boardwalk. Ich blickte auf, und da war das Meer.
    Ich bin keiner, der leicht weint, und auch jetzt weinte ich nicht. Zwei kleine Segelboote, möwenweiß, glitten über das stille Wasser, das weit draußen dunkelblau war und dunkelgrün da, wo die Wellen sich überschlugen, bevor sie ihr Brokatgewebe auf dem Sand ausbreiteten. Es waren Menschen am Strand, die joggten, die badeten. Ein Pärchen von etwa zwanzig Jahren warf einer schwarzen Labrador-Hündin einen Ball ins Meer, das Tier stürzte sich ins Wasser, schwamm wie eine Robbe auf den Ball zu, schnappte ihn und brachte ihn an den Strand zurück. Auch wenn ich Gemälde von Tieren nicht mag, ich meine von Säugetieren, dachte ich an ein Bild, auf dem die sich in das smaragdgrüne Wasser stürzende Hündin als ein breiter, schwarzer Pinselstrich zu sehen wäre, ein Strich wie auf einer japanischen Kalligraphie. Es gibt kein glücklicheres Tier als einen Labrador am Strand. Und da konnte ich nicht länger an mich halten und brach in ein Schluchzen aus, das wie ein Erdbeben war. Ich musste mich setzen und spürte, wie die Tränen mir hart und kalt übers Gesicht rannen.
    Ich zog mir Schuhe und Socken aus und ging etwa zehn Minuten auf dem festen Sand den Strand entlang, mit den Füßen im Wasser, bis zu einer der Wellenbrecher-Molen gegenüber dem Chicago-Riesenrad, das schon zu Coney Island gehört. Ich ging vorsichtig über die spitzen Felsbrocken bis zu der Stelle am Wasser, wo sich die Krebse sammelten. Die Krebse waren steinfarben, und wenn sie sich bewegten, war es, als ob die Steine lebten. Ich hatte sie schon früher beobachtet und mit dem Gedanken gespielt, das Huschen von Licht und Leben auf den braunen und grünen Felsen in Ölbildern oder vielleicht Graphiken festzuhalten. Ich schaute auf die Uhr. Es war schon nach halb eins. Die Zeit kam mit einer Wucht auf uns zu, als wolle sie uns mit Steinen oder Ziegeln

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