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Das spröde Licht: Roman (German Edition)

Das spröde Licht: Roman (German Edition)

Titel: Das spröde Licht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás González
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Franzose, zwei Gemälde mit den Titeln ›Bildnis eines alten Mannes‹ und ›Bildnis einer alten Frau‹. Was mich an diesen Bildern außer ihrer malerischen Qualität beeindruckte, war, dass man im hohen Alter seinen Namen verliert. Es heißt nicht ›Bildnis von Monsieur Armand‹, ›Bildnis von Madame Armand‹ oder wie auch immer. ›Der Alte‹ und ›Die Alte‹ genügen ab einem bestimmten Zeitpunkt, um die Gesamtheit eines menschlichen Wesens zu erklären. Graukopf, Opa, Veteran, Tattergreis, Prostatus. Die abfälligen Bezeichnungen nehmen kein Ende. Der Mensch ist ein erbarmungsloser Spottvogel. Eine Großtante von mir väterlicherseits, Pepa, das grausamste Lästermaul, das ich je gekannt habe, hatte zwei von Geburt an blinde Nichten, Töchter ihrer Schwester Concha, die sie immer ›Conchas Schieleulen‹ nannte.
    Der englische Spottname old fart oder ›alter Knacker‹ gefällt mir noch am besten, obwohl ›vergreister Zausel‹ auch nicht schlecht ist. Und eine schielende Eule werde ich bald selber sein.

neunzehn
    Um fünf nach zwölf stand Sara auf, um Jacobo und Pablo anzurufen, statt ihrer kam Cristóbal zu mir ins Bett. Der Kater schlief fast immer in Arturos Zimmer, denn er liebte die sagenhafte Unordnung, die dort herrschte und die ihm die Möglichkeit bot, die ausgefallensten Ruheplätze zu finden. Aber wenn Amber da war, störte ihn das Herumtollen der beiden zu sehr, und dann kam er zum Schlafen zu uns. Er sprang schnurrend ins Bett und legte sich, schwer wie ein Baumwollballen, auf meine Beine.
    Nach Cristóbals Tod ließ Sara ein Foto von ihm einrahmen, auf dem er in seiner ganzen weißen Pracht neben einer Vase mit Freesien zu sehen war, und stellte es auf ihren Schreibtisch. Dieses Foto gibt es noch immer, Cristóbal neben seinen Freesien; wir haben es nach La Mesa mitgenommen, und jetzt steht es in einem Regal im Bücherzimmer. Hier hatten wir ganz am Anfang einen schwarzen Kater, und zwar mit einem so glänzenden tiefschwarzen Fell, wie ich es noch nie bei einem Tier gesehen habe. Er hieß Spartakus und blieb nicht lange bei uns. Wir hatten ihn zwar kastrieren lassen, aber hier laufen die Katzen überall herum, auf den Dächern, auf den Straßen, und oft verschwinden sie auf Nimmerwiedersehen, wie unser Spartakus, weil sie eine vergiftete Ratte gefressen haben oder von einem Auto überfahren wurden oder weil ein Hund oder ein Mensch sie umgebracht hat. »Das hier ist für Katzen der reinste Wilde Westen«, sagte Arturo einmal.
    Tiere zu malen hat mich nie gereizt, abgesehen von Krebsen, Muscheln und Schnecken, die ja fast Minerale sind oder, im Fall der Schneckenhäuser, auch noch wie Blumen aussehen.
    Vorsichtig schob ich den Kater etwas zur Seite, weil mir sein Gewicht auf den Beinen zu schwer wurde. Zwölf Minuten nach Mitternacht. Ich konnte meine Augen nicht von der Uhr abwenden. Die Zeit trommelte und folterte uns mit ihren Zahnrädern und Stacheln. Sara telefonierte im Bad mit ihrer Samtstimme. 12 Uhr 14. Auf der Straße schmetterte jemand eine Flasche gegen eine Wand oder aufs Pflaster. Als wir in diese Wohnung zogen, war der Lärm draußen viel schlimmer als jetzt, es wurden mehr Flaschen zertrümmert, und es gab mehr Geschrei und Geschimpfe. Aber das Viertel hatte sich nach und nach gewandelt, es war in Mode gekommen und hatte Kunstgalerien und Nobelrestaurants angelockt. Es wurde jetzt nicht mehr Lower East Side genannt, sondern East Village. Die Straßen stanken nicht mehr so nach Urin, und auf den Gehsteigen lagen weniger schlafende Menschenbündel. Und Kothaufen sah man fast gar nicht mehr. »Gut und schlecht«, befand Pablo, der fürchtete, dass alles aufgeputzt und unecht und teuer würde, wie es im West Village und in Soho gewesen war und wie es letzten Endes auch im East Village geschah.
    Cristóbal verließ während der 14 Jahre seines Lebens unsere Wohnung nur zweimal: Das erste Mal, als wir ihn, noch ganz jung, zum Kastrieren brachten; das zweite Mal, als ich ihn eines Morgens mit auf die Dachterrasse unseres Gebäudes nahm, um ihm die große, weite Welt zu zeigen. Den blauen Himmel über sich zu fühlen, die schwindelerregende Endlosigkeit des Universums, versetzte ihn in eine solche Panik, dass er sich ganz flach auf den Boden legte und nur noch ein Stück Fell war, als hätte ihn der Himmel platt gedrückt. Ich brachte ihn natürlich schnell in die Wohnung zurück, wo er sich in den hintersten Winkel von Arturos chaotischem Wandschrank verkroch und dort fast

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