Das spröde Licht: Roman (German Edition)
ausgerechnet in diesem Moment, in dem ich überhaupt keine Kraft mehr hatte, einem solchen New Yorker Original ausgesetzt zu sein. Ich kannte sie gut, diese Originale, und wusste, dass ihre Geschichten, wenn sie einmal damit anfingen, immer verschlungener und verblüffender wurden.
Anthony kaufte und verkaufte Schellackplatten und Vinyl-LPs. Ohne dass ich ihn dazu ermuntert hätte, nahm er die fünfzig Platten aus dem Fahrradkorb, breitete sie wie einen Teppich vor dem Kubus aus und setzte sich neben mich, um sie zu betrachten. Zu den Sternen hinaufzuschauen, das war jetzt nicht mehr möglich. Die Skateboards knallten aufs Pflaster. Auch Anthony ließ mir nicht die Ruhe, um in meinen Gedanken ganz bei Jacobo zu sein. »Rolling Stones«, sagte er und deutete auf die eine Ecke des Teppichs – und tatsächlich, da war der mit den Trommeln und der Gitarre beladene Esel und neben ihm der weißgekleidete Mann, der mit zwei Gitarren in die Höhe springt. »Hm«, sagte ich, denn mir fiel sonst nichts ein. Anthony verharrte eine ganze Weile in Schweigen, was schlimmer war, als wenn er am laufenden Band geredet hätte, denn auf diese Weise nahm er mich noch mehr in Beschlag. Außerdem war er mir sympathisch und hatte meine Neugier geweckt.
Ich bot ihm die Flasche an.
»Okay«, sagte er und nahm einen Schluck. Ich wischte die Flaschenöffnung mit dem Hemdsärmel ab und nahm auch einen Schluck, und so war jetzt festgeschrieben, dass wir die Flasche gemeinsam austrinken würden. Ein unpassender Moment, um Freundschaft zu schließen, dachte ich, aber man lebt in der Stadt, in der man lebt, da ist nichts zu machen. Ein Vorübergehender blieb stehen, und das Blitzlicht einer Kamera leuchtete auf und blendete uns vor den ausgebreiteten Platten. Einen Sekundenbruchteil danach war alles wieder da, Starbucks, Kmart und die Schallplatten. Ich fragte Anthony nach seinem vollen Namen, und er sagte, Anton und dann etwas, das mit -insky zu enden schien.
»Kandinsky?«, fragte ich, und er lächelte.
»Nein. Anton Demidovsky, aber die Leute nennen mich Strawinsky, wegen der Musik eben«, sagte er und deutete auf den Esel der Rolling Stones.
sechsundzwanzig
Gerade hatte ich mich hingelegt, um für einen Augenblick auszuruhen, da hörte ich Ángela an die Tür klopfen. Ich stand auf, um sie hereinzulassen, und bat sie, sich zu setzen. Ich hatte über die Angelegenheit mit ihrem Mann und dem Mädchen aus der trifer -Gärtnerei nachgedacht und wusste vielleicht eine Lösung.
»Auf wessen Namen ist euer Grundstück eingetragen, Ángela?«, fragte ich, und sie schien sich an der brutalen Direktheit meiner Frage nicht zu stören.
»Auf meinen.«
»Dann ist alles klar«, sagte ich erleichtert. »Da gibt’s nicht viel zu überlegen. Du sagst ihm, entweder er macht Schluss mit dem Mädchen, oder er muss gehen. Du brauchst ihn doch für nichts, oder?«
»Nein, eigentlich nicht. Die Kinder sind schon erwachsen.«
Mir schien, sie habe von mir nur hören wollen, was sie selbst schon beschlossen hatte. Also alles in Butter, hätte ich fast gesagt, hielt aber an mich. Ángela saß breit und schön im Halbdunkel des Zimmers und dachte ernst und angestrengt nach, wie man es von besonders intelligenten Kindern kennt. Ich wollte sagen, dass er bestimmt nicht so blöd sein würde, sie wegen dem jungen Ding zu verlassen, sagte es aber nicht, denn es konnte sein, dass ich mich irrte.
»Ja«, sagte Ángela schließlich. »Die Kinder sind erwachsen. Möchten Sie einen Kaffee?«
Ich sagte, ja, ich hätte gerne einen, und sie ging in die Küche. Ich setzte mich wieder an den Schreibtisch und legte ein Konzert für Piccoloflöte, Streicher und Basso Continuo auf, das wie für Blautangaren komponiert schien. Und natürlich konnte ich nicht schreiben; zu sehr wurde ich von den Kapriolen der kleinen Flöte abgelenkt. »Alles, was Sie auflegen, ist Karfreitagsmusik, aber schön«, sagt Ángela immer. Doch das stimmt nicht, denn manchmal lege ich Miles Davis auf, von Sidney Bechet die langsameren Stücke, Pee Wee Russell, Django Reinhardt und auch spanische Musik: Amanda Miguel, Lucho Gatica oder die rancheras von Chavela Vargas, als sie noch jung war und sich nicht heiser zu schreien brauchte wie im Alter. Sänger, Boxer, Frauenhelden, Stierkämpfer und Fußballspieler sind immer bedauernswert, wenn sie alt werden und weitermachen. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich bin ein alter Mann, der bald blind sein wird wie ein Papageienküken, ein Maler, der seinen
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