Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
hörte das Rascheln ihres Gewandes. Widerstrebend und enttäuscht öffnete er die Augen, wie nach einem tiefen, traumvollen Schlaf.
Luise von Schattenbach war fort. Julius hörte ihre Schritte irgendwo hinter der Wand. Dann sah er Colette, die ihn an der Schulter fasste und sanft aufrichtete. Wenige Augenblicke später stand er wieder allein auf dem Treppenabsatz, die Tür fiel zu, und unter ihm lag der Abgrund des stillen Hauses. Es war, als hätte Julius die Wohnung hinter der weißen Tür niemals betreten. Als wäre alles, was dahinter geschehen war, nur in seiner Einbildung abgelaufen.
Er stieg die Treppe hinab wie ein abgewiesener Bettler. Benommen und wund trat er den Heimweg an und versuchte, des Ansturms seiner Fragen Herr zu werden. Doch Julius spürte in sich ein saugendes schwarzes Loch, in das sein Leben gezogen wurde, um darin auf immer verwandelt zu werden. Er spürte seine körperliche Enttäuschung wie den Beginn einer Krankheit. Sie hatte ihn verführt. Aber auf eine Art, die seinen Ehrgeiz angestachelt hatte. Sie hatte gesiegt, und Julius’ Männlichkeit kauerte mit unterdrückter Wut daneben.
Gleichzeitig spürte er in der Brust einen Hauch jener alten, grenzenlosen Verunsicherung. Sie war eine vertraute Gefährtin, die ihn schon als Kind begleitet und gequält hatte. Es war ihm unerträglich, wenn er Dinge nicht verstand, in die er verwickelt war. Er hatte nie verstanden, warum sein Vater tagelang verschwunden war und bei seiner Rückkehr behauptete, er habe gearbeitet, nur um einen Tag später zu verkünden, dass sie kein Geld mehr zum Essen hätten. Und er würde nicht verstehen, warum Luise von Schattenbach ihn zu sich lockte, nur um dann zu erfahren, wie gut er sich im Kunsthistorischen Museum auskannte. Was war der Sinn dieses Treffens gewesen?
In diesem Moment rannte ein Zeitungsjunge auf ihn zu, schwenkte einen Stapel mit der Abendzeitung und schrie: „Extrablatt! Extrablatt! Geheimnisvoller Mörder schlägt wieder zu! Drei tote Kinder! Extrablatt!“
Der Junge sah ihn mit leuchtenden Augen an. „Wollen Sie eine Zeitung kaufen, mein Herr?“
Julius drückte ihm ein paar Münzen in die Hand, nahm sich eine Zeitung von dem Stapel und schlug sie noch im Stehen auf.
Der Zeitungsjunge rannte weiter und verkündete weiterhin die beunruhigende Nachricht, unter der ganz Wien wieder einmal ein paar Tage zittern würde. Er erstarrte, als er die Schlagzeile und darunter den Artikel las. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Julius stopfte sich die Zeitung in die Jackentasche und machte sich unverzüglich auf, um Inspektor Lischka zu suchen.
***
Inspektor Rudolph Lischka fühlte sich, als würde er einem dieser verrückten modernen Maler für eine Grafik Modell sitzen, die den Titel trug: Mann, sich die Haare raufend . In einem herumliegenden Magazin hatte er einmal Zeichnungen gesehen, auf denen Menschen abgebildet waren, die nur noch entfernt als solche zu erkennen waren. Er dachte an den leisen Schrecken, den er beim Anblick der eckigen, ausgemergelten Körper empfunden hatte, deren Konturen eher an Opfer von Verkehrsunfällen erinnerten. Lischka hatte sich gefragt, wie ein Maler die Menschen sehen musste, wenn er sie so wiedergab, als würden sie sich gerade auflösen. Er schauderte bei dem Gedanken an die leichenhafte Verschwommenheit ihrer Umrisse, an das verwesungsgleiche Grün ihrer Züge. Der größte Schrecken allerdings lag darin, dass der Inspektor wusste, dass er in diesem Moment aussah wie eine dieser Figuren auf den Bildern.
Zusammengekrümmt saß er an seinem Schreibtisch im Kommissariat am Schottenring und krallte die Finger in die Haare. Seit zwei Tagen hatte er kaum etwas gegessen und sich beim Anblick seiner leeren Wohnung am Abend zuvor daran erinnert, dass ihm das mit Charlotte niemals passiert wäre. Die Lust am sentimentalen Schmerz hatte ihn aufschluchzen lassen wie ein kleines Kind, und er war, ohne zu essen, auf dem Sofa eingeschlafen. Der Anblick der drei kleinen Körper verfolgte ihn wie ein Schwarm Hornissen, die seine Haut zerstochen hatten und bis in sein wundes Gehirn vorgedrungen waren. Der letzte Rest Vernunft in ihm hoffte, dass nicht sein Vorgesetzter oder ein Amtsdiener hereinkommen würde und ihn so sehen konnte. Doch im nächsten Moment klopfte es an die Tür, und Lischka hatte gerade noch Zeit, sich die Haare glattzustreichen, als sie auch schon aufging und Julius Pawalet in sein Bureau kam. Den hatte er fast vergessen, und seine Anwesenheit löste eine
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