Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Jungen, Zwillinge … Das Kind, das von dem Krokodil getötet wurde, war ein dreijähriges Mädchen …“ Er fühlte die Nachwirkungen des Schocks, die durch seine Worte wieder wachgerufen wurden.
Pawalet zog sich einen Stuhl heran und sah den Inspektor eindringlich an. Dann murmelte er: „Ja, genau so müssen sie ausgesehen haben. Alles stimmt …“
Lischka stöhnte auf. „Sind Sie das Orakel von Wien, oder was? Vergeuden Sie gefälligst nicht meine Zeit mit derartigen Rätseln!“
Da sagte Pawalet: „Die einzige Erinnerung, die ich an kleine Kinder habe, die in der Nähe von Krokodilen und Tigern auftauchen, ist ein Gemälde. Ein Gemälde von Peter Paul Rubens. Es heißt Die vier Erdteile . Darauf sieht man Allegorien der vier damals bekannten Flüsse, also Ganges, Nil und so weiter, vier bärtige Männer, die mit Nymphen irgendwo am Wasser, an einem kleinen Strand sitzen. Im Vordergrund taucht ein großes Krokodil aus den Fluten auf. Direkt vor ihm steht eine Tigerin im Sand. Unter ihrem Bauch ihre Jungen. Und direkt bei diesen beiden wilden Tieren sind drei kleine, nackte Kinder. Eines liegt auf dem Rücken des Reptils. Das zweite schaut hinter ihm hervor, das dritte steht direkt vor dem aufgerissenen Maul. Alle drei Kinder sind nackt, blondgelockt, pausbäckig, gesund – und, sagen Sie, trug eines der Kinder ein rotes Korallenhalsband?“
Lischkas Kopf ruckte hoch. „Woher wissen Sie das?“
„Auf dem Bild trägt eines der Kinder eine Korallenkette. Die legte man zur Zeit von Rubens den Kindern als Amulett um. Das Bild hängt übrigens im Kunsthistorischen Museum.“
Lischka fühlte das Adrenalin in seinen Adern wie ein Gift, das ihn schlagartig aus seiner Betäubung riss.
„Ist das Ihr Ernst, Pawalet?“
Pawalet nickte.
„Und warum haben Sie mir das nicht schon früher gesagt? Ich meine … der letzte Mord –“
„Nun, die Tatsache, dass der Mann mit fünfzehn Pfeilen durchbohrt wurde, hat mich nachdenklich gemacht. Wissen Sie, es gibt viele Gemälde über diesen Heiligen, aber nur ein Maler hat seinen heiligen Sebastian mit exakt fünfzehn Pfeilen durchbohrt, zumindest soweit ich weiß. Guido Reni hat ihn mit zwei Pfeilen gemalt, Perugino ebenfalls. Francesco Bonsignori hat fünf Pfeile verwendet und Botticelli sechs. Und dann war da ein gewisser Andrea Mantegna; von ihm gibt es zwei Bilder mit diesem Motiv. Auf einem stecken zehn Pfeile in dem Heiligen, auf dem zweiten fünfzehn. Es hängt im Kunsthistorischen Museum. Wenn Sie mir den Obduktionsbericht der Leiche zeigen, kann ich Ihnen genau sagen, ob der Mord ein Bildzitat ist.“
„Woher zum Teufel wissen Sie so etwas? Sie arbeiten doch erst seit einer Woche im Kunsthistorischen Museum! Kein normaler Mensch weiß so ein Zeug. Nicht einmal ein kunsthistorischer Bücherdieb.“
Pawalet nickte nur stumm und machte ein ratloses Gesicht.
Der abgerissene Taugenichts war Lischka schon vom ersten Moment an seltsam vorgekommen. Jetzt aber war er ihm geradezu unheimlich. Wortlos nahm er eine Akte vom Tisch, wühlte eine Weile darin herum und holte ein paar Blätter heraus. Er suchte die betreffende Stelle, dann las er vor. Seine Stimme klang hohl und trocken: „Die Einstiche im Körper der Leiche stammen von langen, schlanken Pfeilen, die höchstwahrscheinlich selbst geschnitzt wurden. Zu zählen sind insgesamt fünfzehn Einstiche. Einer in der linken Wade, zwei im rechten Oberschenkel oberhalb des Knies. Ein vierter im linken Oberschenkel nah bei der Hüfte. Vier weitere waren im Unterbauch des Opfers, jeweils im Abstand von etwa zehn Zentimetern. Ein Pfeil durchbohrte die Bauchdecke in der Mitte und drang in die Lunge ein. Relativ symmetrisch dazu steckten zwei Pfeile links und rechts davon im seitlichen Brustkorb. Ein weiterer zwanzig Zentimeter unter der rechten Achsel. Der vermutlich tödliche Pfeil war direkt ins Herz gedrungen, während der Mörder jedoch auch noch mit zwei von unten und oben abgeschossenen Pfeilen in den Kopf des Mannes zielte, außerdem steckte ein Pfeil in der Stirn, ein anderer im Hals unter dem rechten Kinn.“
Der Bezirksarzt Dr. Precher hatte in diesem Fall die Leichenschau vorgenommen.
Pawalet atmete tief durch und nickte widerstrebend. „An genau denselben Stellen befinden sich die Pfeile auf dem Bild von Andrea Mantegna. Es entstand im 15. Jahrhundert. Ich habe es mir vor ein paar Tagen einmal angesehen und mich gewundert. Aber die Vorstellung, dass dieses Bild als Vorlage für einen Mord diente, kam mir
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