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Das sterbende Tier

Das sterbende Tier

Titel: Das sterbende Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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wenig abzuschwächen, doch dieser Vorschlag machte ihn nur wütend, und er drehte sich jedesmal um und rannte zurück zu seiner Mutter. Ich weiß noch, daß ich ihn, als er dreizehn war und auf die Highschool ging und begann, nicht mehr wie ein Kind zu klingen und auszusehen, einmal fragte, ob er Lust habe, den Sommer mit mir in einem Haus zu verbringen, das ich in den Catskill Mountains, nicht weit vom Hotel meiner Eltern, gemietet hatte. Es war an einem Nachmittag im Mai, und wir waren zu einem Spiel der Mets gegangen. Einer unserer qualvollen gemeinsamen Sonntage. Die Einladung bekümmerte ihn so, daß er zum Klo raste und sich dort übergab. Früher, in der Alten Welt, führten Väter ihre Söhne in die Welt des Sex ein, indem sie mit ihnen ins Bordell gingen, und es war, als hätte ich ihm etwas Derartiges vorgeschlagen. Er übergab sich, weil in dem Haus vielleicht eine meiner Geliebten sein würde. Vielleicht auch zwei. Vielleicht sogar noch mehr. Weil mein Haus in seiner Vorstellung ein Bordell war. Doch daß er sich übergab, verriet nicht nur seinen Ekel vor mir, sondern darüber hinaus auch seinen Ekel vor seinem Ekel. Weswegen? Wegen dem, was er sich so sehr wünschte, denn selbst wenn man einen Vater hat, auf den man wütend und von dem man enttäuscht ist, hat der Augenblick, in dem man mit ihm zusammen ist, etwas Überwältigendes, und die Sehnsucht nach dem Vater ist sehr groß. Er war noch immer ein Junge, der sich in einer schlimmen Situation befand und sich nicht zu helfen wußte. Das war, bevor er die Wunde ausbrannte, indem er sich in einen Tugendbold verwandelte.
    In seinem letzten Jahr auf dem College kam ihm der - übrigens ganz richtige - Verdacht, er könnte eine seiner Kommilitoninnen geschwängert haben. Anfangs war er zu erschrocken, um es seiner Mutter zu sagen, also kam er zu mir. Ich versicherte ihm, wenn diese Frau tatsächlich schwanger sei, brauche er sie nicht zu heiraten. Immerhin lebten wir ja nicht im Jahr 1901. Sollte sie, wie sie bereits mehrfach betont hatte, entschlossen sein, das Kind zu bekommen, dann sei das ihre Entscheidung und nicht die seine. Ich war für die Entscheidungsfreiheit der Frau, aber das bedeutete nicht, daß sie ihm ihre Entscheidung aufzwingen durfte. Ich gab ihm den eindringlichen Rat, ihr so oft wie möglich zu sagen, daß er, mit einundzwanzig Jahren und kurz vor dem Abschluß seines Studiums, kein Kind wolle, kein Kind ernähren könne und auch nicht die Absicht habe, in irgendeiner Weise die Verantwortung für ein Kind zu übernehmen. Wenn sie mit Einundzwanzig die alleinige Verantwortung übernehmen wolle, dann sei das eine Entscheidung, die sie allein für sich selbst treffe. Ich bot ihm Geld für eine Abtreibung an. Ich sagte ihm, ich stünde hinter ihm, und er solle nicht nachgeben. »Und was«, fragte er mich, »wenn sie sich einfach weigert?« Ich antwortete, wenn sie nicht zur Vernunft kommen wolle, müsse sie die Konsequenzen tragen, und erinnerte ihn daran, daß ihn niemand zwingen könne, etwas zu tun, was er nicht tun wolle. Ich sagte ihm, was mir ein Mann mit starker Persönlichkeit hätte sagen sollen, als ich im Begriff stand, meinen Fehler zu begehen. Ich sagte: »Da wir in einem Land leben, dessen wichtigste Dokumente die Befreiung des einzelnen von der Obrigkeit zum Thema haben und darauf abzielen, die Freiheit des Individuums zu garantieren, in einem freien politischen System, in dem sich im Grunde niemand darum kümmert, wie du dich verhältst, solange dein Verhalten gegen kein Gesetz verstößt, hast du das Unglück, das dir zustößt, höchstwahrscheinlich selbst herbeigeführt. Es wäre etwas anderes, wenn du in einem von den Nazis besetzten oder von den Kommunisten beherrschten Land Europas oder in Mao Tse-tungs China leben würdest. Dort kümmert sich der Staat darum, daß du unglücklich bist; du brauchst nichts falsch zu machen und kannst trotzdem das Gefühl haben, daß es sich nicht lohnt, morgens überhaupt aus dem Bett zu steigen. Aber hier, wo die Regierung nicht totalitär ist, muß ein Mann wie du selbst für sein Unglück sorgen. Und du bist obendrein intelligent, kannst dich ausdrücken, siehst gut aus und hast eine gute Ausbildung genossen - du bist geradezu geschaffen, in einem Land wie diesem Erfolg zu haben. Der einzige Tyrann, der dir hier auflauert, ist die Konvention, und die sollte man nicht unterschätzen. Lies Tocqueville, wenn du ihn nicht schon gelesen hast. Er ist keineswegs überholt, nicht wenn es

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