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Das sterbende Tier

Das sterbende Tier

Titel: Das sterbende Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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Trotzdem rief er mich jedesmal an, wenn eins seiner Kinder geboren war. Nett von ihm, in Anbetracht seiner Gefühle mir gegenüber. Natürlich wußte ich längst, daß ich verloren hatte. Aber Kenny hatte auch verloren. Die Folgen davon, daß ich bin, wie ich bin, sind langfristig. Diese häuslichen Katastrophen sind dynastisch.
    Aber mit einemmal kommt er alle vier, sechs Wochen zu mir, um das, was ihn vergiftet, loszuwerden. In seinen Augen ist Angst, in seinem Herzen ist Wut, in seiner Stimme ist Müdigkeit; selbst seine elegante Kleidung sitzt nicht mehr so gut. Seine Frau ist unglücklich und wütend wegen seiner Geliebten, seine Geliebte ist nörgelig und verbittert wegen seiner Frau, und die Kinder sind verängstigt und weinen im Schlaf. Was den ehelichen Verkehr betrifft - eine gräßliche Pflicht, die er stets stoisch erfüllt hat -, so reicht selbst seine innere Stärke dazu inzwischen nicht mehr aus. Jede Menge Streit, jede Menge Verdauungsstörungen, jede Menge Beschwichtigungen, jede Menge Drohungen und Gegendrohungen. Doch wenn ich ihn frage: »Warum gehst du dann nicht?«, sagt er, daß das die Familie zerstören würde. Keiner würde das überleben, alle würden zusammenbrechen, das allgemeine Leid würde zu groß sein. Statt dessen muß also jeder sich an jeden klammern.
    Darin steckt unausgesprochen die Überzeugung, daß er um vieles ehrenwerter ist als der Vater, der ihn verlassen hat, als er acht war. Sein Leben hat eine Bedeutung, die meines nicht hat. Das ist sein Trumpf. Das ist der Punkt, an dem er sich stärker fühlt als ich, an dem er sich mir überlegen fühlt.
    »Kenny«, sage ich zu ihm, »warum stellst du dich deinem Vater nicht endlich? Stell dich dem Schwanz deines Vaters. Dies ist die Realität eines Vaters. Kindern lügen wir darüber etwas vor. Was den Schwanz des Vaters betrifft, kann man einem Kind gegenüber nicht aufrichtig sein. Vielen
    Vätern ist die Ehe nicht genug - und es ist besser, das vor den Kleinen zu verbergen. Aber du bist ein Mann. Du weißt, wie es zugeht. Du kennst alle möglichen Künstler. Du kennst alle möglichen Kunsthändler. Du mußt doch eine Vorstellung davon haben, wie andere Erwachsene leben. Ist das noch immer der schlimmste Skandal, den du dir vorstellen kannst?«
    Er und ich, wir tun nichts anderes, als uns gegenseitig Vorhaltungen zu machen, wenn auch die Rollen nicht nach traditionellem Muster verteilt sind. Außerhalb der Romane von Dostojewski ist die traditionelle Rollenverteilung genau umgekehrt: Gewöhnlich zieht der Vater die Zügel an, der Sohn ist ungebärdig, der Tadel geht in die andere Richtung. Dennoch kommt er immer wieder her, und wenn er läutet, lasse ich ihn rein. »Wie alt ist deine Geliebte?« frage ich ihn. »Und sie hat ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann von Zweiundvierzig, einem Vater von vier Kindern, der ihr Chef ist? Dann ist sie also auch nicht die reine Unschuld. Nur du bist ein Muster an Tugend. Du und deine Mutter.« Sie sollten ihn hören, wenn er über diese Frau redet. Eine Chemikerin, die außerdem Kunstgeschichte studiert hat. Und Oboe spielt. Wunderbar, sage ich zu ihm. Selbst in deiner Affäre bist du besser als ich. Er weigert sich sogar, es als Affäre zu bezeichnen. Seine Affäre ist anders als alle anderen. Es ist eine so feste Verbindung, daß man es nicht eine Affäre nennen kann. Und Bindung ist das, was mir fehlt. Meine Affären waren für seinen Geschmack nicht ernsthaft genug.
    Tja, das stimmt. Ich habe mich bemüht, sie nicht ernsthaft werden zu lassen. Für ihn dagegen ist seine Affäre der Versuch, eine neue Frau zu finden. Er hat ihre Familie kennengelernt. Das hat er mir eben erzählt: daß er gestern mit ihr zu ihren Eltern geflogen ist. »Du bist nach Florida geflogen«, habe ich ihn gefragt, »hin und zurück an einem Tag, um ihre Eltern kennenzulernen? Aber hier geht es um eine Affäre. Was haben ihre Eltern damit zu tun?« Und er erzählt mir, sie seien anfangs, am Flughafen, sehr kühl und skeptisch gewesen, aber dann, als man sich in der Eigentumswohnung zum Essen an den Tisch gesetzt habe, hätten sie ihr gesagt, daß sie ihn lieben. Daß sie ihn lieben wie ihren eigenen Sohn. Alle lieben sich. Die Reise hat sich gelohnt. »Und hast du auch die Schwester deiner Freundin und ihre reizenden Kinder kennengelernt?« frage ich ihn. »Hast du ihren Bruder und seine reizenden Kinder kennengelernt?« O Gott, er ist dabei, den kleinen Provinzknast seiner gegenwärtigen Ehe gegen ein

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