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Das sterbende Tier

Das sterbende Tier

Titel: Das sterbende Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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erscheint er unangemeldet vor meiner Tür. Um elf, zwölf Uhr nachts, um eins, ja sogar um zwei Uhr morgens höre ich ihn durch die Gegensprechanlage. »Ich bin's. Laß mich rein, drück auf den Knopf!« Er streitet sich mit seiner Frau, rennt aus dem Haus, steigt in den Wagen und landet, ohne es eigentlich zu wollen, bei mir. Als er erwachsen war, haben wir uns jahrelang kaum gesehen; monatelang haben wir nicht mal miteinander telefoniert. Sie können sich vorstellen, wie überrascht ich bei seinem ersten mitternächtlichen Besuch war. Was führt dich her? frage ich ihn. Er ist in Schwierigkeiten. Er ist in einer Krise. Er leidet. Warum? Er hat eine Geliebte. Eine junge Frau von Sechsundzwanzig, die seit neuestem für ihn arbeitet. Er hat eine kleine Firma für Kunstrestaurationen. Das war der Beruf seiner Mutter, bevor sie in Pension ging: Restauratorin. Nachdem er seinen Dr. phil. an der NYU gemacht hatte, ist er in dieselbe Branche gegangen und hat sich mit ihr zusammengetan, und jetzt hat er einen ziemlich florierenden Betrieb in einem Loft in Soho und beschäftigt achtzehn Leute. Er bekommt viele Aufträge von Galerien, Sammlern und Auktionshäusern, er ist als Berater für Sotheby's tätig, und so weiter. Kenny ist ein großer, gutaussehender Mann, er kleidet sich tadellos, wenn er etwas sagt, dann hat es Hand und Fuß, die Artikel, die er schreibt, sind intelligent, er spricht fließend Französisch und Deutsch - in der Kunstbranche ist er offenbar eine beeindruckende Erscheinung. Bei mir nicht. Meine Fehler sind die Ursache seines Leidens. Wenn er in meiner Nähe ist, beginnt die Wunde in ihm zu bluten. In seinem Beruf ist er tatkräftig, vernünftig, solide und in jeder Hinsicht kompetent, aber ich brauche nur den Mund aufzumachen, und schon ist alles Starke in ihm gelähmt. Und ich brauche nur zu schweigen, wenn er etwas sagt, und schon ist seine ganze Kompetenz unterminiert. Ich bin der Vater, den er nicht überwinden kann, der Vater, in dessen Gegenwart seine eigene Macht zu nichts wird. Warum? Vielleicht weil ich nicht da war. Ich war abwesend und beängstigend. Ich war abwesend und bei weitem zu bedeutungsvoll. Ich habe ihn im Stich gelassen. Das reicht aus, um eine ruhige, ausgeglichene Beziehung unmöglich zu machen. In unserer gemeinsamen Geschichte gibt es nichts, was ihn daran hindern könnte, seinem kindlichen Impuls zu folgen und die Schuld für alle Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellen, seinem Vater zuzuschieben. Ich bin Kennys Vater Karamasow, der Unmensch, das Monstrum, in dessen Gegenwart er, der Heilige der Liebe, ein Mann, dessen Betragen stets makellos sein muß, sich wie ein Opfer fühlt und ihn die Lust zum Vatermord überkommt, als wären alle Brüder Karamasow in ihm vereint. Eltern sind für ihre Kinder die Helden einer Legende, und daß die mir zugewiesene Legende nach einem Roman von Dostojewski gestaltet ist, weiß ich schon seit den späten siebziger Jahren, als ich mit der Post die Kopie einer Seminararbeit bekam, die Kenny im zweiten Studienjahr in Princeton geschrieben hatte, eine mit »sehr gut« benotete Arbeit über Die Brüder Karamasow. Es war nicht schwer zu sehen, daß dieses Buch für ihn eine übersteigerte fiktionale Darstellung seiner eigenen Situation war. Kenny war einer dieser überkandidelten Jugendlichen, für die jedes Buch von einer persönlichen Bedeutung erfüllt ist, hinter der alles zurücktritt, was sonst noch von Belang ist. Er war mittlerweile ganz und gar auf unsere gegenseitige Entfremdung fixiert, und daher konzentrierte sich seine Arbeit auf den Vater. Einen verkommenen Lüstling. Einen einsamen alten Unhold. Einen alten Mann, der jungen Mädchen nachstellt. Einen großen Narren, der sein Haus zu einem Harem voller käuflicher Frauen macht. Einen Vater, der - Sie erinnern sich - sein erstes Kind verläßt und alle seine Kinder ignoriert, »weil ein Kind«, wie Dostojewski schreibt, »seinen Ausschweifungen im Wege gestanden hätte«. Ach, Sie haben Die Brüder Karamasow nicht gelesen? Aber das sollten Sie unbedingt tun, und sei es nur wegen der amüsanten Schilderung der Verderbtheit dieses schändlichen Vaters.
    Wenn Kenny in seiner Jugend zu mir kam und außer sich war, ging es stets um dasselbe Thema. Und darum geht es heute noch: Irgend etwas stellt seine Vorstellung von sich selbst als einem überaus aufrechten Menschen in Frage. Auf die eine oder andere Weise habe ich ihn immer ermutigt, diese Vorstellung zu modifizieren, sie ein

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