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Das sterbende Tier

Das sterbende Tier

Titel: Das sterbende Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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darum geht, daß ›man alle Männer durch dasselbe Sieb pressen will‹. Der springende Punkt ist: Du solltest nicht denken, daß du dich wie durch ein Wunder in einen Beatnik oder Bohemien oder Hippie verwandeln mußt, um den Fußangeln der Konvention zu entgehen. Es erfordert kein auffallendes Benehmen oder eigenartige Kleidung - Dinge, die dir aufgrund deines Temperaments und deiner Erziehung fremd sind. Nein, ganz und gar nicht. Alles, was du zu tun hast, Ken, ist, deine Kraft zu entdecken. Du hast sie, ich weiß, daß du sie hast - sie ist im Augenblick nur gelähmt, weil diese Situation so ungewohnt ist. Wenn du dein Leben intelligent leben und dich nicht der Erpressung durch Slogans und unüberprüfte Regeln aussetzen willst, brauchst du nur deine eigene Kraft...« Et cetera, et cetera. Die Unabhängigkeitserklärung. Die Bill of Rights. Die Gettysburg Address. Die Proklamation zur Sklavenbefreiung. Der vierzehnte Verfassungszusatz. Die drei während des Bürgerkriegs beschlossenen Verfassungszusätze. Ich zählte sie alle auf. Ich kramte Tocqueville hervor. Ich dachte: Er ist einundzwanzig - endlich können wir miteinander reden. Ich war beredter als Polonius. Immerhin war das, was ich ihm sagte, nicht so außergewöhnlich, jedenfalls nicht 1979. Nicht mal damals, als es gut gewesen wäre, wenn mir es jemand vorgehalten hätte, wäre es außergewöhnlich gewesen. In Freiheit geboren - das ist nichts weiter als gesunder amerikanischer Menschenverstand. Und was sagte er, als ich fertig war? Er begann, ihre herausragenden Qualitäten aufzuzählen. »Was ist mit deinen Qualitäten?« fragte ich ihn. Doch er schien mich gar nicht zu hören, sondern fing nur wieder an, mir zu sagen, wie intelligent und hübsch und witzig sie sei. Er erzählte mir von ihrer wunderbaren Familie, und ein paar Monate später waren sie verheiratet.
    Ich kenne alle Einwände, die ein auf Reinheit und moralisches Handeln bedachter junger Mann gegen die Forderung nach persönlicher Souveränität erheben kann. Ich kenne all die Etiketten, die man voller Bewunderung dem anheftet, der seine persönliche Souveränität nicht geltend macht. Tja, Kennys Problem ist, daß er bewundernswert sein will, koste es, was es wolle. Er lebt in Angst vor einer Frau, die ihm sagt, er sei nicht bewundernswert. »Egoistisch« lautet das Wort, das ihn lahmt. Du egoistisches Schwein. Dieses Urteil furchtet er, und darum ist es ebendieses Urteil, das ihn beherrscht. Ja, wenn es um Bewundernswertes geht, ganz gleich, was es ist, kann man auf Kenny zählen, und das ist dann auch der Grund, warum er, als Todd, sein Ältester, in die Highschool kam und meine Schwiegertochter fand, sie müßten noch mehr Kinder haben, innerhalb von sechs Jahren drei weitere Kinder zeugte. Und zwar genau zu einem Zeitpunkt, als er von seiner Frau restlos genug hatte. Weil er so bewundernswert ist, kann er seine Frau nicht zugunsten seiner Geliebten verlassen, sowenig wie er seine Geliebte zugunsten seiner Frau verlassen kann, und selbstverständlich kann er seine kleinen Kinder ebenfalls nicht verlassen. Der Himmel weiß, daß er seine Mutter nicht verlassen kann. Der einzige, den er verlassen kann, bin ich. Aber er ist mit einer ganzen Liste von Beschwerden über mich aufgewachsen, und darum mußte ich mich in den Jahren nach der Scheidung jedesmal, wenn ich ihn sah, verteidigen und ihm zeigen, daß ich nicht so bin, wie seine Mutter behauptet, daß ich sei - im Zoo, im Kino, im Baseballstadion.
    Ich gab es schließlich auf, denn ich bin tatsächlich so, wie sie behauptet, daß ich sei. Er gehörte ihr, und als er dann aufs College ging, war ich nicht mehr bereit, mich um jemanden zu bemühen, dem ich nur Übelkeit verursachte. Ich gab es auf, weil ich nicht die weibliche Bedürftigkeit vortäuschen wollte, gegen die Kenny wehrlos ist. Dem Pathos weiblicher Bedürftigkeit ist mein Sohn auf grausamste Weise verfallen. In den Jahren, als er mit seiner Mutter allein war und diese archaische Verfallenheit entwickelte - die übrigens in der Zeit, da die Frauen noch abhängig waren, auch die besten Männer zu Sklaven machte -, verbrachten er und ich jeden Sommer zwei Wochen in dem kleinen Hotel meiner Eltern. Für mich eine Erleichterung, weil sie alles übernahmen. Sie sehnten sich nach diesem Familienzeug, und wegen unserer persönlichen Geschichte konnten wir nicht einmal im Traum daran denken. Aber als seine Großeltern nicht mehr lebten, als er Student war, Ehemann, Vater...

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